7.7Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung

Satz (Mittelwertsatz der Differentialrechnung von Lagrange)

Sei f : [ a, b ]   stetig und in allen x  ∈  ] a, b [ differenzierbar. Dann gibt es ein p  ∈  ] a, b [ mit

f ′(p)  =  f (b)  −  f (a)b  −  a  .

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 Die Zahl m = (f (b) − f (a))/(b − a) ist der Differenzenquotient von f für die Punkte a und b. Wir können sie als die mittlere Steigung, die f auf dem Weg von f (a) nach f (b) besitzt, auffassen. Der Mittelwertsatz besagt, dass ein Punkt im Inneren des Intervalls [ a, b ] existiert, in dem die lokale Steigung von f genau die globale mittlere Steigung von f ist.

 Ist f (a) = f (b), so gibt es ein p mit f ′(p) = 0. Dieser Spezialfall ist als Satz von Rolle bekannt (benannt nach dem französischen Mathematiker Michel Rolle).

Beispiele
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(1)

Sei f : [ −1, 1 ]   mit

f (x)  =  1x2  für alle x  ∈  [ −1, 1 ].

Dann ist f stetig und in ] −1, 1 [ differenzierbar. Nach dem Mittelwertsatz gibt es ein p  ∈  ] −1, 1 [ (nämlich p = 0) mit

f ′(p)  =  f (−1) − f (1)1 − (−1)  =  0.

Das Beispiel illustriert die Bedingung „stetig in allen p  ∈  [ a, b ] und differenzierbar in allen p  ∈  ] a, b [“. Wir würden etwas verlieren, wenn wir uns auf in [ a, b ] differenzierbare Funktionen beschränken würden.

(2)

Auf die Stetigkeit in den Randpunkten kann nicht verzichtet werden. Denn sei f : [ 0, 1 ]   mit f (x) = x für alle x  ∈  [ 0, 1 [ und f (1) = 0. Für diese Funktion gilt (f (1) − f (0))/(1 − 0) = 0 ≠ 1 = f ′(x) für alle x  ∈  ] 0, 1 [.

(3)

Sei f :    eine differenzierbare nichtmonotone Funktion. Dann besitzt f ′ eine Nullstelle. Denn da f stetig, aber nicht monoton ist, gibt es c < d in [ a, b ] mit f (c) = f (d) (vgl. die Beispiele zum Zwischenwertsatz). Nach dem Mittelwertsatz existiert also ein p  ∈  ] c, d [ mit

f ′(p)  =  f (d) − f (c)d − c  =  0d − c  =  0.

 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung hat, wie der Zwischenwertsatz für stetige Funktionen, zahlreiche Anwendungen. Die Sätze, die man mit seiner Hilfe beweisen kann, umfassen den Satz über den Zusammenhang zwischen der Ableitung einer Funktion und ihrem Monotonieverhalten (vgl. die nächste Sektion), den Satz von Taylor (7. 12) und den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung (8. 8). Wir diskutieren hier noch zwei einfache, aber deswegen nicht weniger wichtige Anwendungen.

Anwendung 1:  Bestimmung aller Funktionen f mit f ′ = f

Aus dem Mittelwertsatz folgt zunächst:

Ist I ein Intervall und g : I   differenzierbar mit g′ = 0, so ist g konstant.

Denn für alle a < b in I existiert ein p in ] a, b [ mit

g′(p)  =  (g(b) − g(a))/(b − a).

Wegen g′(p) = 0 gilt also g(a) = g(b). Da dies für beliebige a < b in einem Intervall I gilt, kann also g nur einen einzigen Wert annehmen, d. h., g ist konstant. Nun folgt:

Gilt f ′ = f für eine Funktion f :   , so gibt es ein c mit f = c exp.

Denn sei g :    definiert durch

g(x)  =  f (x) · e− x  für alle x  ∈  .

Dann gilt nach der Produktregel

g′(x)  =  f ′(x) · e− x  −  f (x) e− x  =  f (x) · e− x  −  f (x) e− x  =  0  für alle x  ∈  .

Also gibt es ein c mit g(x) = f (x) e− x = c für alle x  ∈  , d. h., es gilt

f (x)  =  c ex  für alle x  ∈  .

Speziell ist exp :    durch „f ′ = f und f (0) = 1“ eindeutig bestimmt.

Anwendung 2:  Lipschitz-Stetigkeit ist gar nicht so selten

Wir hatten in 7. 5 gesehen, dass die Differenzierbarkeit die Stetigkeit nach sich zieht. Aus dem Mittelwertsatz folgt nun, dass differenzierbare Funktionen in vielen Fällen sogar die starke Form der Lipschitz-Stetigkeit erfüllen. Sei nämlich f : [ a, b ]   stetig differenzierbar. Da f ′ stetig ist und stetige Funktionen auf [ a, b ] beschränkt sind, gibt es ein L ≥ 0 mit |f ′| ≤ L. Dann gilt für alle x < y in [ a, b ], dass

|  f (x) − f (y)x − y|   ≤  L,

da die linke Seite nach dem Mittelwertsatz ein Wert der Ableitung ist. Dies zeigt, dass

|f (x)  −  f (y)|  ≤  L |x  −  y|  für alle x, y  ∈  [ a, b ],

d. h., f ist Lipschitz-stetig mit der Lipschitz-Konstanten L. Wir haben also gezeigt:

𝒞(1)-Funktionen auf kompakten Intervallen sind Lipschitz-stetig.