11.Die Kontinuumshypothese

ist von größerer Mächtigkeit als :

Viel größer oder nur ein wenig größer?

Das ist die Frage. Die Cantorsche Kontinuumshypothese besagt, dass die Kluft zwischen  und  minimal ist, es also keine Mächtigkeiten gibt, die echt zwischen || und || liegen:

Kontinuumshypothese (CH)

Sei M eine Menge und es gelte || ≤ |M| ≤ ||. Dann gilt:

|| = |M|  oder  |M| = ||.

Anders formuliert:

Es gibt keine Menge M mit || < |M| < ||.

Noch einmal anders formuliert:

Jede Teilmenge der reellen Zahlen ist abzählbar oder gleichmächtig zu den reellen Zahlen.

Übung

Zeigen Sie die Äquivalenz dieser drei Formulierungen.

 Die Abkürzung (CH) steht für engl. „Continuum Hypothesis“ und ist mittlerweile allgemein gebräuchlich.

 Besonders beim Betrachten der dritten Form fällt auf, wie einfach das Problem zu formulieren ist. Ähnlich wie manche klassische Probleme der Zahlentheorie lässt sich die Frage, die die Kontinuumshypothese stellt, auch einem interessierten Laien schnell erklären, im Gegensatz etwa zur Riemannschen Vermutung, die eine Aussage macht über die Nullstellen einer speziellen komplexwertigen Funktion ζ, der Riemannschen Zeta-Funktion (die Vermutung ist bis heute offen). Die Riemannsche Vermutung ist ebenso natürlich wie die Frage nach der Gültigkeit der Kontinuumshypothese, aber für den Nichtmathematiker schwerer zugänglich. Einfach zu formulierende Probleme sind zwar erfreulich, aber entscheidend ist letztendlich ihre Natürlichkeit innerhalb einer bereits als wertvoll erkannten mathematischen Umgebung, und diese Umgebung muss nicht immer leicht zu vermitteln sein. Manche Probleme drängen sich bei der Untersuchung eines mathematischen Gegenstandes regelrecht auf, sie entstehen aus intrinsischen Gründen, und die damit verbundene Dynamik trägt einen Großteil zur Entwicklung der Mathematik bei. Das Kontinuumsproblem ist ganz abgesehen von seiner einfachen Darstellbarkeit in dieser Hinsicht besonders natürlich: Die mathematische Umgebung bildet die Tatsache, dass es abzählbare und nichtabzählbare Mengen gibt, und dass gerade die beiden Grundstrukturen  und  der Mathematik hier auseinanderfallen. Hat man dies einmal akzeptiert, so drängt sich die Frage nach der Größe der Kluft zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen von selbst auf. Innerhalb der Ordinalzahltheorie der Mengenlehre kann man ein kanonisches Objekt ω1 definieren, das minimal größer ist als : Es gilt || < |ω1|, aber es existiert keine „Zwischenmenge“ M mit || < |M| < |ω1|. Die Frage von (CH) lautet dann einfach: Gilt || = |ω1|? Dieses Objekt ω1 ist eine Grundstruktur der Mathematik, und in der mengentheoretischen Forschung steht es gleich neben  und . Wir definieren dieses Objekt im zweiten Abschnitt.

 Nun denn: Ist (CH) richtig oder falsch oder immer noch ungelöst? Die Antwort ist beunruhigend. Sie wird gegeben durch den folgenden tiefen Satz:

Satz (Fundamentalsatz der Mengenlehre)

In der klassischen Mathematik gilt: Die Kontinuumshypothese ist weder beweisbar noch widerlegbar.

 Die klassische Mathematik ist hier ein Kunstausdruck (wie andernorts klassische Literatur oder Musik) und meint die durch die Tradition begründete und zur Zeit allgemein akzeptierte Mathematik. Genauer: Die durch eine übliche mengentheoretische Axiomatik des frühen 20. Jahrhunderts mengentheoretisch interpretierte Mathematik. Es ist die Mathematik, wie sie heute überall in Lehrbüchern zu finden ist. Es gibt zur Zeit einen sehr einheitlichen Bestand von allgemein anerkannten Methoden und Argumenten, und wir haben ihn hier überall verwendet, speziell etwa Induktion im Beweis des Satzes von Cantor-Bernstein und abstrakte Auswahl im Beweis des Vergleichbarkeitssatzes. Der Bestand wird, ebenso wie die Sprachstruktur innerhalb von Definition, Satz und Beweis, zumeist durch Vormachen und Nachahmung weitergegeben, und er wird oft nur in der mathematischen Logik explizit diskutiert.

 Der Leser wird vielleicht sagen: Es gibt doch nur eine Mathematik! Damit dieser Satz Sinn hat, muss man sagen, was genau Mathematik ist. Und jede Definition, die dann die Mathematik liefert, ist ein Dogma, und kann von der mathematischen Praxis leicht überholt werden. Erfahrungsgemäß richtig ist: Mathematik als menschliche Tätigkeit ist eine ungemein streitfreie und zuverlässige Sache, und gerade die Streitfreiheit und Zuverlässigkeit meint man, wenn man die Mathematik vor anderen Wissenschaften herausheben möchte. Das soziale Phänomen ist es, das die Existenz der einen Mathematik suggeriert. Es herrscht Einigkeit darüber, ob ein vorgelegtes Ergebnis aus den und den Grundannahmen mit den und den logischen Schlüssen korrekt abgeleitet wurde, und Fehler in Argumenten werden von Kollegen normalerweise schnell entdeckt, und dann als solche auch mit „ich Esel“ und nicht mit „du Narr“ akzeptiert. (Dass dies etwas ganz Wunderbares ist, zeigt ein Vergleich mit der nicht unähnlich aufgebauten Juristerei.)

 Normalerweise wird die Angabe der Grundannahmen und der logischen Schlussregeln unterdrückt, und dies geschieht einfach deswegen, weil sie in den meisten Fällen die gleichen sind. (Wir sagen auch nicht außerhalb der Mathematik: „Ich spreche jetzt deutsch in der üblichen Grammatik: Ich heiße Georg.“) Diese stillschweigenden Voraussetzungen bilden den klassischen Rahmen, und die klassische Mathematik besteht aus den innerhalb dieses Rahmens erzielten oder generell erzielbaren Ergebnissen. Der Rahmen selber findet seinen mathematischen Ausdruck in einer formallogisch präsentierten axiomatischen Mengenlehre, die eines der sich sehr ähnlichen Axiomensysteme zugrunde legt, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelt worden sind. De facto genügt ein Bruchteil dieser axiomatischen Stärke für die meisten Disziplinen der Mathematik; der schon für die elementare Mengentheorie sicher nicht zu groß gewählte Rahmen erscheint der Analysis, Algebra, Geometrie, usw. fast schon als überdimensioniert.

 Die Mengenlehre möchte aber dennoch ihrer Kardinalfrage auf den Grund gehen, und so unermesslich weit das Objektmeer ihrer Basisaxiomatisierung der mathematischen Mitwelt auch erscheinen mag, liegen zu diesem Zweck doch Erweiterungen des Rahmens nahe. Neue Axiome braucht das Land, so rufen manche. Welche Axiome soll man nehmen? Müssen Axiome unmittelbar einleuchtend sein? Oder genügt es, wenn sie sich innerhalb einer sich entwickelnden Theorie herauskristallisieren und aufdrängen? Ist das Bild einer Verzweigung oberhalb der Grundaxiome das richtige? Ist diese Verzweigung uferlos, oder gibt es nur eine Handvoll sich widersprechender natürlicher und strukturreicher Fortsetzungen?

 Es gibt attraktive Erweiterungen des klassischen Rahmens, die (CH) positiv wie negativ entscheiden, und auch solche, die (CH) weiter offenlassen. Diese Axiome haben selbst unter Mengentheoretikern bislang keine allgemeine Akzeptanz gefunden. Inwieweit die Geschichte dafür verantwortlich ist, dass ein natürliches und starkes Axiom wie das Axiom der Konstruierbarkeit von Gödel nicht zum Kanon gehört, ist eine ebenso gewagte wie interessante Frage. Das Axiom besagt, dass die Ordinalzahlen den Kern der Mengenwelt bilden: Alles, was es gibt, windet sich in beschreibbarer Weise um dieses Rückgrat des Mengenuniversums herum. Dunkle Mengen existieren nicht, die Leuchtkraft der Ordinalzahlen erreicht jede Menge. Auswahlakte „ein …“ können in wunderbarer Weise immer durch ein „das …“ ersetzt werden, und es kommt noch besser: Die Kontinuumshypothese ist beweisbar, wenn man dieses Axiom, schamanistisch-postmodern „V = L“ genannt, akzeptiert, und sie ist beweisbar in einer Weise, dass einem fast die Krokodilstränen kommen. Man darf die These wagen, dass Cantor diesem Axiom bereitwillig die Tür geöffnet und es als den Gast begrüßt hätte, den er so schmerzlich vermisst hatte.

 Was also ist schlecht am Axiom V = L? Nichts − aber es gibt Konkurrenz. Die Konkurrenz zu V = L ist die Theorie der großen Kardinalzahlaxiome, und bereits mittelstarke derartige Axiome brechen „V = L“ das Rückgrat: Sie beweisen, dass „V ≠ L“ gilt. Weiter droht ständig das Subtheorieargument: Das, was unter „V = L“ alles war, erscheint nun als ein echter Teil von dem, was nun alles ist. Die Welt des − von Gödel selber abgelehnten − Gödelaxioms bleibt haargenau die gleiche, aber es gibt nun etwas außerhalb dieser Welt. Und es finden sich faszinierende Objekte und Strukturen in diesem Außerhalb.

 Was also ist schlecht an großen Kardinalzahlaxiomen? Nichts − aber auch diese Axiome sind unter Mengentheoretikern nicht allgemein als neuer Rahmen, als „wahr“, akzeptiert, wenn auch seit Jahrzehnten ein brennendes, von allen Seiten geteiltes Interesse an diesen Axiomen besteht, und gute Argumente für die Erweiterung des Highways der Unendlichkeit vorliegen. Große Kardinalzahlaxiome entscheiden zwar (CH) nicht, aber sie entscheiden die Frage der Kardinalität von vielen Teilmengen von  zugunsten von (CH), und allgemeiner beweisen sie einen Satz von Axiomen, der als das Analogon der Dedekind-Peano Axiome der Zahlentheorie für die reellen Zahlen gelten darf. Weiter bilden sie einen babylonischen Turm, in dessen Stockwerken sich die Mengenlehre als Theorie komplett und in schöner Ordnung unterbringen lässt − sehr viel in der modernen Mengenlehre spielt sich außerhalb der logischen Kraft einer klassischen Axiomatik ab. „V = L“ kann übrigens mit einem Subtheorieargument kontern und sehr große Kardinalzahlen studieren, ohne sie jemals ganz zu besitzen. Das Argument erscheint nicht so natürlich wie das der Konkurrenz, aber es ist keineswegs völlig absurd; man kann es sogar als Synthese auffassen. Die Zukunft wird zeigen, ob eine Standardmengenlehre einmal „V = L“ oder große Kardinalzahlaxiome oder etwas ganz anderes enthalten wird, oder ob es bei der Verzweigung von interessanten Theorien oberhalb eines klassischen Kerns bleibt, wie die Situation zur Zeit wohl am neutralsten beschrieben wird.

 Neben Erweiterungen sind auch ganz andere Szenarien denkbar: Eine Abschwächung des Rahmens aufgrund der Entdeckung eines Widerspruchs innerhalb der Rahmentheorie, und eine Umformulierung des Begriffs der reellen Zahlen und damit von (CH). Es könnte auch sein, dass jemand eine ganz andere Fundierung der Mathematik findet, die die Mengenlehre in einem neuen Licht erscheinen lässt. Wer weiß. Wir können nicht sagen, dass (CH) ein vages oder absolut unlösbares Problem ist. Wir können nur sagen: In der klassischen Mathematik gibt es keinen Beweis der Hypothese, und auch keinen Beweis ihrer Negation (es sei denn, die klassische Mathematik ist widersprüchlich, denn dann ist alles beweisbar). Wir werden dieses Resultat nun etwas genauer erläutern.