1.Warum die rationalen Zahlen nicht genügen

Die rationalen Zahlen  = { n/m | n  ∈  , m  ∈  , m ≠ 0 } bilden auf den ersten Blick ein gutes mathematisches Modell für ein räumliches oder zeitliches Linearkontinuum: Die Ordnung auf  ist dicht, d. h., zwischen je zwei rationalen Zahlen p und q liegt eine weitere rationale Zahl r, etwa das arithmetische Mittel r = (p + q)/2 von p und q.  scheint ein perfekter Zahlenstrahl zu sein, doch der Schein trügt. Die rationalen Zahlen sind für die Zwecke der Geometrie und der Analysis nicht umfassend genug. Es fehlen, wie die alten Griechen im 5. Jahrhundert vor Christus entdeckten, einfache geometrisch konstruierbare Punkte, und es fehlen, wie Georg Cantor im 19. Jahrhundert entdeckte, in einem gewissen Sinne sogar „fast alle“ Grenzwerte von Folgen rationaler Zahlen. Mit diesen mathematisch grundlegenden und auch historisch sehr bedeutsamen Erkenntnissen wollen wir uns in den beiden ersten Kapiteln befassen. Dabei genügt unser in der Schule erworbenes Verständnis der reellen Zahlen. Im dritten und vierten Kapitel werden wir dieses Verständnis vertiefen und die wichtigsten algebraischen und ordnungstheoretischen Eigenschaften der reellen Zahlen diskutieren.