Die Entdeckung der alten Griechen

 Betrachten wir ein Quadrat mit der Seitenlänge 1, so ist seine Diagonale ganz ohne Zweifel eine natürliche mathematische Größe und sollte also einem Punkt auf unserem aus Zahlen gebildeten Modell eines Kontinuums entsprechen. Wir können die Diagonale mit einem Zirkel abgreifen und auf unseren Zahlenstrahl übertragen, mit der Nadel des Zirkels im Nullpunkt.

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 Die alten Griechen entdeckten, dass wir bei dieser Übertragung keinen Punkt von  treffen. Der aus den rationalen Zahlen gebildete Zahlenstrahl hat dort, wo die Mine des Zirkels ideell landet, ein „Loch“. Dem Beweis dieser Tatsache stellen wir einige zahlentheoretische Überlegungen voran.

 Die Zahl 14 = 2 · 7 können wir genau 1-mal ohne Rest durch 2 teilen, die Zahl 16 = 24 genau 4-mal. Für jede natürliche Zahl n ≥ 1 sei z(n) die maximale Anzahl der möglichen Zweiteilungen von n ohne Rest. Dadurch wird eine zahlentheoretische Funktion z :   definiert (mit * =  − { 0 }, vgl. Anhang 1).

Beispiele
z(14)  =  z(2 · 7)  =  1,  z(16)  =  z(24)  =  4, 
z(280)  =  z(23 · 5 · 7)  =  3,  z(7)  =  z(15)  =  z(1111)  =  0.

 Die Zahl z(n) nennen wir den Zweifaktor von n. Mit den Rechenregeln für die Exponentiation lässt sich beweisen:

Satz (Eigenschaften der Zweifaktorfunktion)

Für alle n ≥ 1 gilt:

(i)

z(2n)  =  z(n)  +  1,

(ii)

z(n2)  =  2z(n).

 Nach diesen Vorbereitungen können wir nun unseren Beweis führen.

Satz (Irrationalität der Quadratwurzel aus 2)

Sei d die Länge der Diagonale des Einheitsquadrats. Dann ist d keine rationale Zahl, d. h., es gilt d ≠ n/m für alle n, m  ∈  *.

Beweis

Annahme, es gilt d = n/m für gewisse n, m  ∈  *. Nach dem Satz des Pythagoras ist d2 = 12 + 12 = 2, also gilt (n/m)2 = 2 und damit

(+)  n2  =  2m2.

Seien a = z(n) und b = z(m) die Zweifaktoren von n und m. Dann gilt

z(n2)  =  2a,  z(2m2)  =  2b + 1

nach den obigen Eigenschaften (i) und (ii). Nach (+) ist also

2a  =  z(n2)  =  z(2m2)  =  2b + 1.

Aber die Zahlen 2a und 2b + 1 sind verschieden, da die eine gerade und die andere ungerade ist. Damit haben wir den gewünschten Widerspruch erreicht und so die Verneinung unserer Annahme bewiesen.

 Der Beweis verbindet zwei Welten. Das zahlentheoretische Argument zeigt, dass das Doppelte einer Quadratzahl keine Quadratzahl sein kann, sodass keine rationale Zahl d die Gleichung d2 = 2 erfüllt. Der Satz des Pythagoras macht dieses Ergebnis am Einheitsquadrat sichtbar. Diese Brücke zwischen Arithmetik und Geometrie sichert dem Beweis einen unbefristeten Platz im Juwelenkabinett der Mathematik.

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Die „Wurzelschnecke“. Es gilt xn = n.

Ab n = 18 überlappen sich die Dreiecke.

 Die Entdeckung der irrationalen Zahlen wird den Pythagoreern und genauer dem Hippasos von Metapontum um 450 vor Christus zugeschrieben. Dabei spielt neben dem Quadrat vor allem auch das Pentagramm eine wichtige Rolle (vgl. die Ergänzungen E1). In den Platonischen Dialogen wird erwähnt, dass der Mathematiker Theodoros die Irrationalität der Quadratwurzeln von 2, …, 17 zeigen konnte, die Quadratzahlen 4, 9 und 16 ausgenommen. Die Zahl 17 taucht in einer geometrischen Konstruktion von Quadratwurzeln auf, und möglicherweise hat Theodoros einfach bei 17 abgebrochen, um eine Überlappung zu vermeiden. Wie dem auch sei, der allgemeine Beweis, dass die Quadratwurzel aus n für jedes n, das nicht von der Form m2 ist, irrational ist, wird dem Mathematiker Theaitetos zugeschrieben. Bei Euklid werden irrationale Zahlen sehr ausführlich behandelt, möglicherweise unter Verwendung von Arbeiten des Theaitetos.

 Die obige Argumentation lässt sich in der Tat variieren. Der Leser versuche, mit ihrer Hilfe zu zeigen, dass die Quadratwurzel aus 3 und die dritte Wurzel aus 5 irrational sind, d. h., es gibt keine positiven Zahlen n und m mit

n2  =  3m2  bzw.  n3  =  5m3.