Dezimalbrüche und b-adische Brüche
Als eine weitere Anwendung des Vollständigkeitsaxioms betrachten wir Dezimalbrüche. Ganz im Körper der rationalen Zahlen verbleibt:
Definition (endliche Dezimaldarstellungen)
Sei T = { (d1, …, dk) | k ∈ ℕ, di ∈ { 0, …, 9 } }. Dann definieren wir die Funktion base10 : ℕ × T → ℚ durch
base10(n, (d1, …, dk)) = n + ∑1 ≤ i ≤ k di/10i für alle (n, (d1, …, dk)) ∈ ℕ × T.
Gilt q = base10(n, (d1, …, dk)) für ein q ∈ ℚ, so heißt (n, (d1, …, dk)) eine Dezimaldarstellung oder Dezimalbruchentwicklung von q.
Die Menge T enthält das leere Tupel ( ), sodass base10(n, ( )) = n für alle n ∈ ℕ.
Dezimalnotation und Sprechweisen
Wir bezeichnen sowohl das Paar (n, (d1, …, dk)) als auch den Wert base10(n, (d1, …, dk)) mit n, d1 … dk, sodass je nach Kontext
n, d1 … dk = (n, (d1, …, dk)) ∈ ℕ × T,
n, d1 … dk = n + ∑1 ≤ i ≤ k di/10i ∈ ℚ.
Weiter nennen wir n, d1 … dk einen Dezimalbruch oder eine Dezimalzahl. In n, d1 … dk heißen n der ganzzahlige Anteil und di die i-te Dezimalziffer oder Nachkommaziffer an der Nachkommastelle i für i = 1, … ,k.
Beispiele
(1) | 3,14 = 3 + 1/10 + 4/100 = 314/100, 3,14 = 3,140. |
(2) | 3,14 hat zwei Nachkommastellen und die zweite Nachkommaziffer ist 4. |
Die Bedeutung von n, d1 … dk geht aus dem Kontext hervor. Die Verwechslung von Darstellung und Zahl (oder: Wort und Wert) dient der Vereinfachung der Sprechweise. Sie ist in der Arithmetik an vielen Stellen üblich, etwa in
„3 + 5 = 8.“ „Der zweite Summand in 3 + 5 ist ungerade.“
Wir können in der zweiten Aussage nicht 8 für 3 + 5 einsetzen. Es ergibt keinen Sinn zu sagen, dass der zweite Summand von 8 ungerade ist. In der zweiten Aussage ist „3 + 5“ ein syntaktischer Ausdruck (ein Term oder eine Zeichenfolge), keine Zahl. Analoges gilt für Dezimalzahlen. Es wäre sehr mühsam, konsequent zwischen einem Zahlausdruck (Numerale) und seinem Wert zu unterscheiden. Im Zweifel erlaubt eine funktionale Lesart der traditionellen Notation n, d1 … dk wie in obiger Definition eine Präzisierung.
Bislang haben wir lediglich nichtnegative Dezimaldarstellungen betrachtet. Die Erweiterung auf negative Zahlen ist jedoch unproblematisch (und fast selbstverständlich):
Negative Dezimalbrüche
Durch Bildung von additiven Inversen und Erweiterung der Sprechweisen erhalten wir Dezimalzahlen der Form − n,d1 …dk (in der Bedeutung − (n, d1 …dk) und nicht etwa (− n), d1 …dk).
Wir haben in n, d1 … dk den ganzzahligen Anteil n aus der Menge ℕ der natürlichen Zahlen übernommen. In einem Aufbau des Zahlsystems werden die natürlichen Zahlen axiomatisch charakterisiert, sodass ihre Namen austauschbar sind. In der Mengenlehre ergibt sich ein „kanonisches Modell“ ℕ mit 0 = ∅ und der Nachfolgerbildung
n + 1 = n ∪ { n } für alle n ∈ ℕ.
Wir können aber eine Zählreihe auch dezimal konstruieren, indem wir ausgehend von beliebigen Zahlzeichen 0, …, 9 Nachfolger nach der „9er Regel“ bilden, sodass etwa 98 + 1 = 99, 99 + 1 = 100, 100 + 1 = 101. Die Ziffernfolgen lassen sich wieder als Tupel in { 0, …, 9 } positiver Länger präziseren, also als Elemente von T* = T − { ( ) }. Bei diesem Zugang gilt ℕ = T*, sodass natürliche Zahlen ab ovo Dezimalzahlen sind. Aufgrund der mathematischen Zufälligkeit der Basis 10 gilt diese Modellierung der natürlichen Zahlen in der mengentheoretisch fundierten Mathematik heute eher als speziell. Prinzipiell ist sie gleichberechtigt zu allen anderen Zählreihen, und im Alltag und in der Aneignung des Zahlbegriffs spielt sie unbestritten eine sehr wichtige Rolle.
Eine Dezimaldarstellung des ganzzahligen Anteils können wir unabhängig von der Modellierung von ℕ durch folgende Variante der base10 Funktion erreichen (die wir wieder base10 nennen):
Dezimaldarstellung des ganzahligen Anteils
Wir definieren base10 : T* × T → ℚ durch
base10((cm, …, c0), (d1, …, dk)) = ∑0 ≤ i ≤ m ci 10i + ∑1 ≤ i ≤ k di/10i
Wir schreiben erneut cm … c0, d1 … dk in doppelter Bedeutung, sodass dieser Ausdruck sowohl ein Element von T* × T als auch eine rationale Zahl bezeichnet.
Besonders elegant wird diese Form der Dezimaldarstellung durch die Verwendung von negativen Indizes:
d− m … d−1 d0, d1 … dk = ∑−m ≤ i ≤ k di 10−i mit m, k ∈ ℕ.
Durch den Start bei − m erhalten wir eine uniform gebaute Summe.
Nach diesen Vorbereitungen können wir nun zu den unendlichen Dezimalbrüchen übergehen.
Es gilt stets n ≤ n, d1 … dk ≤ n + 1. Das Vollständigkeitsaxiom erlaubt den Übergang zu unendlich vielen Dezimalziffern:
Definition (unendliche Dezimalzahlen)
Sei S = { (d1, d2, d3, …) | di ∈ { 0, …, 9 } für alle i }. Dann definieren wir die Funktion base10 : ℕ × S → ℚ durch
base10(n, (d1, d2, d3, …)) = sup { n, d1… dk | k ≥ 1 }
Gilt x = base10(n, (d1, d2, d3, …)) für ein x ∈ ℝ, so heißt (n, (d1, d2, d3, …)) eine (unendliche) Dezimaldarstellung oder Dezimalbruchentwicklung von x.
Im Definitionsbereich der Funktion base10 werden unendliche Folgen der Form (d1, d2, d3, …) verwendet. Diese Folgen besprechen wir im nächsten Abschnitt genauer. Hier genügt ein intuitives „Pünktchen-Verständnis“.
Wir erweitern die Notationen und Sprechweisen für endliche Dezimalbrüche in der offensichtlichen Art und Weise. Insbesondere gilt dies für:
Dezimalnotation
Wir bezeichnen sowohl das Paar (n, (d1, d2, d3, …)) als auch den Wert base10(n, (d1, d2, d3, …)) mit n, d1 d2 d3 ….
Wir diskutieren die Eigenarten von endlichen und unendlichen Dezimalzahlen in den Ergänzungen. Ihre Untersuchung wird leichter und klarer, wenn unendliche Reihen und speziell die geometrische Reihe zur Verfügung stehen. Der Supremumsbegriff genügt aber, um sie zu einzuführen. Und wir können bereits an dieser Stelle ein bekanntes Phänomen erklären:
Beispiel
Nach Definition eines endlichen Dezimalbruchs gilt:
0,9 = 9/10 = 1 − 1/10,
0,99 = 99/100 = 1 − 1/100, und allgemein
0,9…9 = 9…9/10k = 1 − 1/10k mit k Ziffern 9 im Zähler.
Damit gilt nach Definition eines unendlichen Dezimalbruchs:
0,999… | = sup { 0,9…9 | mit k Ziffern 9, k ≥ 1 } |
= sup { 1 − 1/10k | k ≥ 1 } = 1. |
Jede unendliche Dezimalzahl ist das Supremum von endlichen Näherungsbrüchen. Speziell ist 0,999… nach Definition die kleinste reelle Zahl, die größer ist als alle endlichen Dezimalzahlen der Form 0,9…9. Und diese Zahl ist die Eins, da inf { 1/10k | k ≥ 1 } = 0 nach dem Archimedischen Axiom gilt. Das Supremum einer nichtleeren beschränkten Menge ist eine reelle Zahl, kein zeitlicher Prozess. In 0,999… „fehlt“ nichts zur 1.
Das wichtigste Ergebnis über unendliche Dezimalzahlen ist:
Satz (Existenz und Eindeutigkeit von Dezimaldarstellungen)
Jede reelle Zahl x ≥ 0 besitzt eine unendliche Dezimaldarstellung der Form
x = n, d1 d2 d3 …
Hat x eine unendliche Dezimaldarstellung der Form
x = n, d1 … dk 0 0 0 … mit dk ≠ 0,
so hat x auch die unendliche Dezimaldarstellung
x = n, d1 … (dk − 1) 9 9 9 …
Davon abgesehen ist die unendliche Dezimaldarstellung eindeutig.
Wir diskutieren dieses Ergebnis in den Ergänzungen. Anschaulich gilt:
Gewinnung von Dezimaldarstellungen
Eine unendliche Dezimaldarstellung von x > 0 erhalten wir, indem wir x „von links“ mit endlichen Dezimalzahlen messen (wie bei einem Meterstab mit immer feineren Unterteilungen). Dabei können wir „strikt von links“ messen, wodurch 9er Perioden entstehen können. Messen wir „nicht strikt von links“, so reproduzieren wir eine endliche Dezimaldarstellung mit Nullfortsetzung, sofern eine solche existiert. Die strikte Messung der 1 von links liefert 0,999…, die nicht strikte Messung ergibt 1 = 1,000…
Verwenden wir in unseren Definitionen anstelle der 10 eine natürliche Zahl b ≥ 2 und Ziffern ai ∈ { 0, …, b − 1 }, so erhalten wir die b-adischen Brüche oder b-al-Zahlen. Wichtig sind die Dualzahlen für b = 2 und die Hexadezimalzahlen für b = 16. Die Konstruktion lautet in Kurzform:
(n, a1 … ak)b = baseb(n, (a1, …, ak)) = n + ∑1 ≤ i ≤ n ai/bi,
(n, a1 a2 a3 …)b = baseb(n, (a1, a2, a3, …)) = sup { (n, a1… ak)b | k ≥ 1 }.
Beispiel
Für die Basis b = 2 gilt
(0,1)2 = 1/2, (0,11)2 = 1/2 + 1/4 = 3/4,
(0,111)2 = 1/2 + 1/4 + 1/8 = 7/8, und allgemein
(0,1…1)2 = (2k − 1)/2k = 1 − 1/2k mit k 1-Ziffern.
In Analogie zum obigen Beispiel gilt also
(0,111…)b = sup { 1 − 1/2k | k ≥ 1 } = 1.
Für alle b ≥ 2 gilt allgemein (0, b′ b′ b′…)b = 1 mit b′ = b − 1.