Das Abspalten von Nullstellen
Ist w eine Lösung einer algebraischen Gleichung, so können wir aus rein algebraischen Gründen unser Lösungsproblem um einen Grad reduzieren. Ein einfacher, aber wichtiger Spezialfall ist:
Satz (Abspalten von Nullstellen, Basisfall)
Seien w ∈ ℂ und n ≥ 1. Dann gilt
zn − wn = (z − w) Qn(z), mit
Qn(z) = zn − 1 w0 + zn − 2 w1 + … + z1 wn − 2 + z0 wn − 1.
Der Beweis wird durch Ausmultiplizieren geführt, und der Leser ist aufgerufen, dies durchzuführen. Bis auf die Summanden zn und wn heben sich alle Summanden paarweise auf. Wir sprechen auch von einer Teleskop-Summe.
Die Polynome Qn sind „gegenläufig“ in den Potenzen von z und w. Es gilt
Q1(z) = 1, Q2(z) = z + w, Q3(z) = z2 + z w + w2, …
Die Zahl w ist eine Nullstelle des Polynoms zn − wn. Das Ergebnis besagt, dass wir die Nullstelle w (genauer: den Linearfaktor z − w) abspalten können. Dieses Abspalten ist für jedes Polynom möglich:
Satz (Abspalten von Nullstellen, allgemeiner Fall)
Sei P = ak zk + … + a0 ein Polynom über ℂ vom Grad k ≥ 1, und sei w ∈ ℂ. Weiter sei
Q = ak Qk + ak − 1 Qk − 1 + … + a1 Q1
mit den Polynomen Qk wie im obigen Satz. Dann gilt deg(Q) = k − 1 und
(+) P = (z − w) Q + P(w)
Insbesondere gilt P = (z − w) Q genau dann, wenn P(w) = 0.
Beweis
Wegen ak ≠ 0 gilt deg(Q) = k − 1. Zudem gilt:
P(z) − P(w) | = ak zk + … + a1 z + a0 − (ak wk + … + a1 w + a0) |
= ak(zk − wk) + ak − 1(zk − 1 − wk − 1) + … + a1(z − w) | |
= (z − w) (ak Qk + ak − 1 Qk − 1 + … + a1 Q1) = (z − w) Q. |
Die Beweise verwenden nur Körperaxiome, sodass die Sätze für Polynome über einem beliebigen Körper K gelten. Die Darstellung (+) ist eindeutig, da aus (z − w) Q = (z − w) Q′ folgt, dass (z − w) (Q − Q′) = 0, sodass Q = Q′.
Das Argument ist kurz und elegant, die Berechnung von Q mit Hilfe der Polynome Qj jedoch mühsam. Die folgende Version ist in dieser Hinsicht besser:
Satz (Abspalten von Nullstellen, rekursive Berechnung des Quotienten)
Sei P = ak zk + … + a0 ein Polynom über ℂ vom Grad k ≥ 1, und sei w ∈ ℂ. Weiter seien bk − 1, …, b0 ∈ ℂ und Q definiert durch
bk − 1 = ak,
bj = w bj + 1 + aj + 1 für j = k − 2, …, 0,
Q = bk − 1 zk − 1 + bk − 2 zk − 2 + … + b1 z + b0.
Dann gilt:
(a) | P = (z − w) Q + P(w), |
(b) | P(w) = a0 + w b0. |
Insbesondere ist w genau dann eine Nullstelle von P, wenn a0 = − w b0.
Beweis
Wir setzen bk = 0, sodass bj = w bj + 1 + aj + 1 für j = k − 1, …, 0. Dann gilt:
z Q | = z ∑j < k bj zj |
= ∑j < k (w bj + 1 + aj + 1) zj + 1 | |
= ∑1 ≤ j ≤ k (w bj + aj) zj | |
= w ∑1 ≤ j ≤ k bj zj + ∑1 ≤ j ≤ k aj zj | |
= w (Q − b0) + P − a0 | |
= w Q + P − (a0 + w b0). |
Auflösen nach P liefert
P = (z − w) Q + a0 + w b0.
Durch Einsetzen von w erhalten wir schließlich
P(w) = (w − w) Q + a0 + w b0 = a0 + w b0.
Mit Hilfe der Koeffizienten bj können wir effektiv entscheiden, ob w eine Nullstelle von P ist: Wir berechnen rekursiv bk − 1, …, b0 mit Hilfe von w und den Koeffizienten von P und prüfen am Ende, ob a0 = − w b0.
Der Beweis bleibt für Polynome über einem beliebigen Körper gültig, sodass der Satz wieder allgemein gilt.
Bemerkung
Die Rekursionsformeln lassen sich aus aus der ersten Darstellung gewinnen. Durch Aufsammeln von Potenzen erhalten wir:
Q(z) | = ak Qk(z) + ak − 1 Qk − 1(z) + … + a1 Q1(z) |
= ak (zk − 1 + zk − 2 w + … + z wk − 2 + wk − 1) | |
+ ak − 1 (zk − 2 + zk − 3 w + … + z wk − 3 + wk − 2) + … | |
+ a3 (z2 + z w + w2) + a2 (z + w) + a1 | |
= ak zk − 1 + (ak w + ak − 1) zk − 2 | |
+ (ak w2 + ak − 1 w + ak − 2) zk − 3 + … | |
+ (ak wk − 2 + … + a3 w + a2) z | |
+ ak wk − 1 + … + a2 w + a1 | |
= bk − 1 zk − 1 + bk − 2 zk − 2 + … + b1 z + b0, |
mit den Koeffizienten bj wie in den Rekursionsformeln.
Mit allgemeiner Polynomdivision lässt sich das Abspalten eines Linearfaktors so einsehen: Die Division von P durch z − w liefert
P = (z − w) Q + R, mit deg(Q) = deg(P) − 1, deg(R) < deg(z − w) = 1
Das Restpolynom R ist konstant, und wegen P(w) = 0 ist R das Nullpolynom. Unsere Beweise geben die Division explizit in verschiedenen Formen an.
Die Koeffizienten bj lassen sich für jedes Polynom P und jedes w ∈ ℂ berechnen. Die Zahl w ist genau dann eine Nullstelle von P, wenn w b0 = − a0.
Beispiel
Wir betrachten das normierte Polynom
P = z3 − (2 + 5 i) z2 − (8 − 4 i) z + 4 + 6 i.
dritten Grades in ℂ. Sei w = 1 + i. Die bj berechnen sich zu
b2 = 1
b1 = w b2 + a2 = 1 + i − 2 − 5 i = − 1 − 4 i
b0 = w b1 + a1 = − (1 + i)(1 + 4 i) − 8 + 4 i = 3 − 5i − 8 + 4 i = − 5 − i
Es gilt w b0 = − (1 + i)(5 + i) = − 4 − 6 i = − a0. Damit ist P(w) = 0 und
P = (1 + i) (z2 − (1 + 4 i) z − 5 − i)
Jedes Abspalten einer Nullstelle hinterlässt ein Polynom mit einem um Eins erniedrigten Grad. Eine wiederholte Anwendung des Satzes zeigt:
Korollar (Anzahl der Lösungen einer algebraischen Gleichung)
Eine algebraische Gleichung in einem Körper K vom Grad k ≥ 1 besitzt höchstens k Lösungen.
Der Fundamentalsatz der Algebra ist äquivalent dazu, dass jedes komplexe Polynom vom Grad k ≥ 1 mindestens eine Nullstelle besitzt. Die Faktorisierung in Linearfaktoren ergibt sich durch wiederholtes Abspalten von Nullstellen.
Eine wichtige Folgerung für die Polynomauswertung ist:
Korollar (Koeffizientenvergleich für Polynomfunktionen)
Sei K ein unendlicher Körper. Dann gilt:
(a) | Ist P ein Polynom über K mit P(x) = 0 für unendlich viele x ∈ K, so ist P das Nullpolynom. |
(b) | Sind P, Q Polynome über K mit P(x) = Q(x) für unendlich viele x ∈ K, so gilt P = Q, d. h. die Koeffizienten von P und Q stimmen überein. |
Beweis
Die Aussage (a) ergibt sich direkt aus dem ersten Korollar. Sind nun P und Q wie in (b), so gilt (P − Q)(x) = P(x) − Q(x) = 0 für unendlich viele x ∈ K, sodass P − Q das Nullpolynom ist. Damit gilt P = Q.
In einem unendlichen Körper können wir also Polynome mit Polynomfunktionen identifizieren: Verschiedene Koeffizienten führen zu verschiedenen Funktionen. In einem beliebigen Körper K gelten die Ergebnisse dagegen im Allgemeinen nicht. Gilt ak xk + … + a0 = bk xk + … + b0 für alle x ∈ K, so gilt immerhin a0 = b0 (Einsetzen von x = 0). Ebenso folgt aus a1 x + a0 = b1 x + b0 für alle x ∈ K, dass a0 = b0 und a1 = b1 (Einsetzen von 0 und 1). Dagegen gilt im Körper K2 = { 0, 1 } zum Beispiel x2 + x = x2 − x = x7 + x3 = 0 für alle x ∈ K2, obwohl die Polynome verschiedene sind.
Manchmal lässt sich die Lösbarkeit einer Gleichung überraschend leicht zeigen. So besitzt jedes reelle Polynom P : ℝ → ℝ dritten Grades eine reelle Lösung, da P sowohl negative als auch positive Werte annimmt und damit nach dem Zwischenwertsatz eine Nullstelle von P existiert (dies werden wir später beweisen). Oft sind wir aber nicht nur an reiner Existenz, sondern auch an expliziten Lösungen interessiert. Im Idealfall gibt es Lösungsformeln, die aus den vier Grundrechenarten und einfachen Funktionen aufgebaut sind. Daneben sind Verfahren von Interesse, die Lösungen näherungsweise möglichst genau und effektiv bestimmen. Die Entwicklung derartiger Verfahren ist eine Aufgabe der Numerik, während die Suche nach Lösungsformeln ein klassisches Thema der Algebra ist. Wir wollen im Folgenden algebraische Gleichungen in ℂ bis zum Grad 2 genauer untersuchen und in ℂ mit Hilfe der vier Grundrechenarten und der reellen Quadratwurzelfunktion lösen. Als Anwendung der Ergebnisse bestimmen wir die Lösungen der komplexen Gleichung z3 − 1 = 0 dritten Grades. Im Ausblick betrachten wir Gleichungen höheren Grades und das Problem ihrer Lösung.