Die allgemeine Grenzwertdefinition

 Der Grenzwertbegriff für monotone und pendelnde Folgen trägt relativ weit, da die meisten konkreten in der elementaren Analysis betrachteten Folgen entweder monoton sind oder hin und her pendeln. Trotz der großen Bedeutung der beiden Folgentypen ist der für sie entwickelte Grenzwertbegriff aber immer noch zu eng. Zwei wesentliche Nachteile sind:

(1)

Varianten der Monotonie wie 1/2, 1, 1/4, 1/3, 1/6, 1/5, … oder Pendelbewegungen wie 1, 1/2, −1/3, 1/4, 1/5, −1/6, … werden nicht erfasst. Es wäre unübersichtlich, immer neue Typen hinzuzufügen. Wir brauchen eine Definition, die alle Fälle abdeckt.

(2)

In  strebt die Folge (in/n)n  ∈   anschaulich gegen 0. Gleiches gilt für die Folge ((1/n, 0, −1/2n))n  ∈   im 3. Es ist also wünschenswert, einen Grenzwertbegriff zur Verfügung zu haben, der auch für konvergente Folgen außerhalb des Linearkontinuums geeignet ist. Infima und Suprema stehen dabei im Allgemeinen nicht mehr zur Verfügung.

Eine Variante des Supremums- und Infimumsbegriffs, die die endlichen Anfangsstücke einer Folge als unwesentlich ansieht, führt für alle Folgen in  zum Ziel, und wir werden diese Variante im nächsten Kapitel kennenlernen. Der entstehende Konvergenzbegriff ist aber erneut für Folgen in  und allgemeineren Räumen unpassend. Keine Wünsche offen lässt dagegen eine im 19. Jahrhundert etablierte Grenzwertdefinition, die den Abstand zweier Zahlen oder Punkte ins Zentrum rückt. Sie zählt zu den wichtigsten Definitionen der gesamten Analysis und wird uns in vielen Spielarten immer wieder begegnen. Wir können sie als Präzisierung der folgenden immer genauer formulierten Anschauungen lesen:

Die Glieder xn der Folge nähern sich x an.

Die Glieder xn der Folge befinden sich irgendwann beliebig nahe bei x.

Für jede positive reelle Zahl ε gibt es nur endlich viele Indizes n,

für die das Folgenglied xn von x einen Abstand größergleich ε besitzt.

Definition (Konvergenz von Folgen, Grenzwert, Limes, konvergent, divergent)

Sei (xn)n  ∈   eine Folge in , und sei x  ∈  . Dann konvergiert die Folge (xn)n  ∈   gegen x, falls gilt:

∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |xn − x| < ε. (Konvergenzbedingung für x)

Die Zahl x heißt dann ein Grenzwert oder Limes der Folge (xn)n  ∈  , und die Folge heißt konvergent in . Eine nicht konvergente Folge heißt divergent.

analysis1-AbbID37

x  =  limn xn: Für alle ε > 0 gibt es ein n0, sodass alle Folgenglieder xn mit n ≥ n0 im ε-Intervall ] x −  ε, x + ε [ liegen

 Wir haben die Definition zunächst nur für reelle Folgen formuliert. Später lassen wir auch komplexe Folgen zu, und im zweiten Band werden wir die Konvergenz in allgemeinen metrischen Räumen ganz analog definieren.

Analyse der Konvergenzbedingung

 Die Konvergenzbedingung für x ist vergleichsweise komplex und verdient es, mit der Lupe betrachtet zu werden. Syntaktisch besteht sie aus:

(1)

einem Allquantor über positive reelle Zahlen,

(2)

einem Existenzquantor über natürliche Zahlen,

(3)

einem Allquantor über natürliche Zahlen,

(4)

einer Abstandsbedingung zwischen x und Gliedern der Folge.

Die zugehörige Semantik ist:

(1)

Für alle noch so kleinen positiven Abstände ε…

(2)

gibt es einen guten von ε abhängigen Index n0

(3)

sodass ab diesem Index…

(4)

alle Folgenglieder einen Abstand kleiner als ε von x haben.

 Genauigkeit im Umgang mit der Konvergenzbedingung ist unerlässlich. Die Angelegenheit ist kompliziert und will mit Sorgfalt, Geduld und jenem Willen zur Durchdringung gelernt werden, der in der Mathematik an den entscheidenden Stellen durch nichts zu ersetzen ist. Bei Anfängern häufen sich beim Versuch der Wiedergabe der Definition vor allem zwei Fehler: Quantoren werden vertauscht, sodass die Konvergenzbedingung zum Beispiel mit ∃n0 ∀ε … beginnt. Und die beiden Bereiche  und  der Quantoren werden durcheinandergebracht, sodass Ausdrücke wie ∃xn > n0 auftauchen.

 Griffige Formulierungen wie

Die Folge x0, x1, x2, …, xn, … konvergiert gegen x,

wenn die Folgenglieder schließlich beliebig nahe bei x liegen.

sind immer etwas ungenau, aber im Lichte der Definition auch nicht verwerflich. Der Ausdruck „beliebig nahe“ greift den Allquantor über ε auf, das „schließlich“ den Existenzquantor für n0 und den Allquantor für n, und das „nahe liegen bei“ den durch den Betrag definierten Abstand. Die logische Anordnung der Quantoren ist in der formalen Fassung besonders klar, und diese Fassung bewährt sich auch im Umgang mit dem Begriff. Die Verneinungsregeln für Quantoren liefern, dass eine Folge (xn)n  ∈   genau dann divergent ist, wenn für alle x  ∈   gilt:

∃ε > 0 ∀n0 ∃n ≥ n0 |xn − x| ≥ ε. (Divergenzbedingung für x)

Diese Bedingung können wir so formulieren:

Die Folge x0, x1, x2, …, xn, … divergiert, wenn für jedes x die Glieder der Folge

immer wieder um einen gewissen festen positiven Betrag von x abweichen.

 Explizit möchten wir noch notieren, dass bei den Aussagen „(xn)n ∈  konvergiert“ und „(yn)n ∈  divergiert“ ein zusätzlicher Quantor über x zu den Bedingungen hinzukommt:

∃x ∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |xn − x| < ε. (Konvergenzbedingung für (xn)n ∈ )

∀x ∃ε > 0 ∀n0 ∃n ≥ n0 |xn − x| ≥ ε. (Divergenzbedingung für (xn)n ∈ )

Beispiele

(1)

Sei (xn)n ∈  = ((−1)n/(n + 1)) = (1, −1/2, 1/3, −1/4, …). Dann gilt die Konvergenzbedingung für 0. Sei hierzu ε > 0. Nach dem Archimedischen Axiom gibt es ein n0 mit 1/n0 < ε. Dann gilt für alle n ≥ n0:

| xn  −  0 |  =  | (−1)n/(n + 1)  −  0 |  =  1/n  ≤  1/n0  <  ε.

Damit ist 0 ein Grenzwert von (xn)n ∈ .

(2)

Die Folge (xn)n ∈  = ((−1)n)n  ∈   ist divergent. Denn sei x beliebig. Dann gilt für alle n:

| x2n − x |  =  | 1 − x |,  | x2n + 1 − x |  =  | −1 − x |  =  | 1 + x |.

Aber für alle x ist |1 − x| ≥ 1 oder |1 + x| ≥ 1. Damit gilt die Divergenzbedingung für x mit ε = 1.

Varianten

 Bei aller Strenge lässt die Konvergenzbedingung auch Varianten wie

∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |xn − x| ≤ ε  oder

∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |xn − x| < 2ε

zu, die äquivalent zur „< ε“-Version sind. Die Nachweise dieser Varianten sind eine gute Übung, um mit der Bedingung vertraut zu werden.

Bemerkungen zu den Vorbereitungen

 Die allgemeine Definition setzt die Definitionen der Vorbereitungen fort: Eine monotone oder pendelnde Folge konvergiert nach der allgemeinen Definition genau dann gegen x, wenn sie nach der alten Definition gegen x konvergiert.

analysis1-AbbID38

Die allgemeine Definition setzt den Grenzwertbegriff für monotone Folgen fort.

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Gleiches gilt für den Grenzwertbegriff für Pendelfolgen.

Bemerkungen

(1)

Die allgemeine Definition baut nicht auf den beiden Spezialfällen auf. Sie klärt ein für allemal und ohne aus mathematischer Sicht notwendige Vorarbeiten, wann eine beliebige Folge in  konvergiert. Wird ein Mathematiker gefragt, was die Konvergenz von (xn)n ∈  gegen x bedeutet, so schreibt er ohne Tamtam einfach die Konvergenzbedingung hin:

∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |xn − x| <  ε.

Natürlich kann man jederzeit die logischen Zeichen für die Quantoren durch „für alle“ und „es gibt“ ersetzen, wenn man dies schöner findet.

(2)

Trotzdem bleiben unsere Vorarbeiten wertvoll. Denn ist eine betrachtete Folge (xn)n ∈  monoton steigend, so ist der Nachweis ihrer Beschränktheit oft einfacher als der Nachweis der Konvergenzbedingung für ein bestimmtes x. Analog ist für eine Pendelfolge (xn)n ∈  der Nachweis von

(+)  infn | xn + 1 − xn|  =  0

oft einfacher als der Nachweis von

(++)  ∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |xn − x| < ε

für ein geeignetes x. Denn da (|xn + 1 − xn|)n  ∈   monoton fällt, ist (+) äquivalent zu

(+′)  ∀ε > 0 ∃n |xn + 1 − xn|  <  ε.

Diese Aussage hat einen Quantor weniger als (++) und man muss den Grenzwert x gar nicht kennen, um sie nachzuweisen.

 Im zweiten Abschnitt werden wir sehen, dass wir das Konvergenzkriterium von Leibniz für alternierende Reihen durch unsere Analyse von Pendelfolgen geschenkt bekommen. Der Leser wird zudem den unendlichen Kettenbrüchen im Ausblick unten gut vorbereitet begegnen, da sie ebenfalls durch Pendelfolgen definiert werden.

 Unsere Diskussion hat eine Besonderheit der beiden Spezialfälle ans Licht gebracht: Die Konvergenzbedingungen für monotone und pendelnde Folgen lassen sich formulieren und beweisen, ohne den Grenzwert x der Folge zu benutzen und zu kennen. Bei der allgemeinen Konvergenzbedingung taucht dagegen der Grenzwert x auf. Wir werden im nächsten Kapitel zwei allgemeine Konvergenzbedingungen kennenlernen, die den Grenzwert der Folge ebenfalls nicht erwähnen.