Ausblick:  Funktionalgleichungen

 Wir haben mit Hilfe der Exponentialfunktion zur Basis e die allgemeinen Exponential- und Logarithmusfunktionen expa und loga und weiter die Potenzfunktionen potb gewonnen. Nun wollen wir die Bedeutung dieser Funktionen durch Charakterisierungssätze, die strukturerhaltende Eigenschaften ins Zentrum stellen, weiter untermauern. Hierzu betrachten wir die folgenden Funktionalgleichungen für eine Funktion f : P  :

(FG + ·)f(x  +  y)  =  f (x)  ·  f (y) für alle x, y  ∈  P
(FG · +)f(x  ·  y)  =  f (x)  +  f (y) für alle x, y  ∈  P
(FG · ·)f(x  ·  y)  =  f (x)  ·  f (y) für alle x, y  ∈  P
(FG + +)f(x  +  y)  =  f (x)  +  f (y) für alle x, y  ∈  P

Wir fragen:

Welche Funktionen f : P   erfüllen diese Funktionalgleichungen?

Der Definitionsbereich P der Funktion f soll dabei so groß wie möglich gewählt werden, etwa P =  oder P = ] 0, ∞ [. Für die erste und vierte Funktionalgleichung muss P abgeschlossen unter der Addition sein, für die zweite und dritte abgeschlossen unter der Multiplikation. In der Sprache der Algebra ist also (P, +) bzw. (P, ·) eine Halbgruppe, und wir fragen nach strukturerhaltenden Abbildungen von (P, +) bzw. (P, ·) nach (, +) bzw. (, ·). Die vier Funktionalgleichungen entsprechen den vier möglichen Kombinationen der Operationen.

 Die Funktionen expa, loga und potb sind jeweils Beispiele für die ersten drei Gleichungen. Beispiele für (FG + +) sind die Geraden ga :   , a  ∈  , mit

ga(x)  =  a x  für alle x  ∈  .

Die Nullfunktion 0 = g0 erfüllt alle vier Funktionalgleichungen. Wir zeigen nun, dass im Reich der stetigen Funktionen keine weiteren Beispiele existieren.

f(x + y)  =  f (x) · f (y)  und  f(x · y)  =  f (x) · f (y)

 Wir beginnen mit:

Satz (Charakterisierung der Exponentialfunktionen)

Sei f :    eine im Punkt 0 stetige Funktion mit

f(x  +  y)  =  f (x)  ·  f (y)  für alle x, y  ∈  P. (Additionstheorem)

Dann ist a = f (1) ≥ 0. Ist a = 0, so ist f = 0. Ist a > 0, so ist f = expa.

Beweis

Ist a = 0, so gilt für alle x  ∈  :

f (x)  =  f(1 + x − 1)  =  f (1)  ·  f(x − 1)  =  0  ·  f(x − 1)  =  0.

Also ist f = g0 in diesem Fall. Sei also a > 0. Dann ist

a  ·  f (0)  =  f (1) · f (0)  =  f(1 + 0)  =  f (1)  =  a  >  0,

und damit f (0) > 0. Wegen

f (0)  =  f(0 + 0)  =  f (0) · f (0)  =  f (0)2

ist dann aber f (0) = 1. Wie für die Exponentialfunktion folgt nun aus der Stetigkeit im Punkt 0 die Stetigkeit in jedem Punkt p, denn

lim 0 f(p + x)  =  f (p) lim 0 f (y)  =  f (p) · f (0)  =  f (p).

Aus (FG + ·) folgt ebenfalls wie für die Exponentialfunktion, dass

f (n/m)  =  man  =  expa(n/m)  für alle n  ∈   und m  ∈  *.

Also gilt f| = expa| und damit f = expa, da beide Funktionen stetig sind.

 Für Leser, die den Ausblick „Binomische Reihen“ gelesen haben, notieren wir:

Korollar (Identifizierung der binomischen Reihen)

Für alle x  ∈  ] −1, 1 [ und alle s  ∈   gilt Bs(x) = n sn xn = (1 + x)s.

Beweis

Sei x  ∈  ] −1, 1 [. Wir definieren f :    durch f (s) = Bs(x) für alle s  ∈  . Dann ist f stetig im Nullpunkt:

(+)  lim 0 f (s)  =  1.

Beweis von (+)

Für s  ∈  [ −1, 1 ] und n ≥ 1 gilt

| sn |   =  |s|1  ·  |s − 1|2  ·  …  ·  |s − n + 1|n  ≤  |s|.

Damit ist

|f (s)  −  1|  ≤  |s| · n ≥ 1 |x|n  für alle s  ∈  [ −1, 1 ],

und die rechte Seite strebt gegen 0, wenn s gegen 0 strebt.

Aber f erfüllt, wie wir früher gezeigt haben, das Additionstheorem. Wegen f (1) = B1(x) > 0 gilt f = expa mit a = f (1) = 1 + x. Damit ist

Bs(x)  =  f (s)  =  as  =  (1 + x)s.

 Die rein multiplikative Funktionalgleichung können wir auf den behandelten Fall zurückführen:

Korollar (Charakterisierung der Potenzfunktionen)

Sei f : ] 0, ∞ [   eine im Punkt 1 stetige Funktion mit

f(x · y)  =  f (x)  ·  f (y)  für alle x, y  ∈  P.

Dann gilt f = 0, falls f (e) = 0. Andernfalls ist f = potb mit b = log(f (e)).

Beweis

Ist f (e) = 0, so ist f (x) = f(e · x/e) = 0 · f (x/e) = 0 für alle x > 0. Andernfalls definieren wir g :    durch

g(x)  =  f (ex)  für alle x  ∈  .

Dann ist g stetig im Punkt 0 und für alle x, y  ∈   gilt

g(x + y)  =  f(ex + y)  =  f(ex · ey)  =  f (ex) · f (ey)  =  g(x) · g(y).

Folglich ist g = expa mit a = g(1) = f (e) > 0. Dann gilt aber für alle x > 0:

f (x)  =  f (elog(x))  =  g(log(x))  =  alog(x)  =  xlog(a).

f(x + y)  =  f (x)  +  f (y)  und  f(x · y)  =  f (x)  +  f (y)

 Für ein Plus links und rechts gilt:

Satz (Charakterisierung der linearen Funktionen)

Sei f :    eine im Punkt 0 stetige Funktion mit:

f(x + y)  =  f (x)  +  f (y)  für alle x, y  ∈  P.

Dann ist f die Gerade ga mit Steigung a = f (1).

Beweis

In Analogie zur Funktionalgleichung FG(+ ·) zeigt man

(a)

f (0)  =  0, 

(b)

f ist stetig, 

(c)

f (n/m)  =  n/m f (1)  für alle n  ∈  , m  ∈  *,

woraus die Behauptung folgt.

 Hiermit können wir auch die vierte Funktionalgleichung behandeln:

Korollar (Charakterisierung der Logarithmusfunktionen)

Sei f : ] 0, ∞ [   eine im Punkt 1 stetige Funktion mit:

f(x · y)  =  f (x)  +  f (y)  für alle x, y  ∈  P. (Multiplikationstheorem)

Dann gilt: Ist f (e) = 0, so ist f = 0. Andernfalls ist f = loga mit a = e1/f (e).

Beweis

Wir definieren g :    durch

g(x)  =  f (ex)  für alle x  ∈  .

Dann ist g stetig im Punkt 0. Weiter gilt für alle x, y  ∈  

g(x + y)  =  f(ex + y)  =  f(ex · ey)  =  f (ex)  +  f (ey)  =  g(x)  +  g(y).

Damit ist g = gc mit c = g(1) = f (e). Ist c = 0, so ist g = 0 und damit f = 0.

Ist c ≠ 0, so gilt nach den Rechenregeln für Logarithmen, dass

f (x)  =  f (elog(x))  =  g(log(x))  =  c log(x)  =  loge1/c(x)  für alle x > 0.

Die Stetigkeitsvoraussetzung

 In allen Resultaten haben wir die Stetigkeit von f in einem Punkt vorausgesetzt. Eine natürliche Frage ist, ob man auf diese Voraussetzung verzichten kann. Die Antwort ist nein, aber Gegenbeispiele sind nicht leicht zu konstruieren. Exemplarisch betrachten wir:

Satz (unstetige additive Funktionen)

Es gibt ein unstetiges f :    mit f(x + y) = f (x) + f (y) für alle x, y  ∈  .

Beweisskizze

Sei B ⊆  derart, sodass gilt:

(+) Für alle x  ∈   gibt es eindeutige α1, …, αn  ∈  * und v1, …, vn  ∈  B mit x  =  α1 v1  +  …  +  αn vn (mit der leeren Summe für x = 0).

(Die Existenz einer derartigen Menge B reeller Zahlen folgt aus dem allgemeinen Basis-Existenzsatz der Linearen Algebra. Jede Basis des -Vektorraumes  − eine sog. Hamel-Basis − ist geeignet.)

Ist x  ∈   dargestellt wie in (+), so setzen wir

f (x)  =  α1  +  …  +  αn.

Dann ist f :    unstetig und für alle x, y  ∈   gilt f(x + y) = f (x) + f (y).

 Die Stetigkeitsvoraussetzung lässt sich aber noch weiter abschwächen, es genügt eine Beschränktheitsbedingung im Punkt 0. Weiter kann man auch Monotonie anstelle der Stetigkeit fordern. Wir diskutieren dies in den Übungen.