Ausblick: Komplexe Differentiation
Bislang haben wir reelle Funktionen f : P → ℝ mit P ⊆ ℝ differenziert. Eine natürliche Frage ist, ob eine Ableitung für Funktionen f : P → ℂ, P ⊆ ℝ, oder noch allgemeiner für Funktionen f : P → ℂ mit P ⊆ ℂ erklärt werden kann. Dieser Frage wollen wir nun nachgehen.
Wir beginnen mit komplexwertigen Funktionen mit reellen Definitionsbereichen. Sei also f : P → ℂ mit P ⊆ ℝ. In einem Differenzenquotienten
f (x) − f (p)x − p
stehen nun komplexe Zahlen im Zähler, während im Nenner nach wie vor nur reelle Zahlen vorkommen. Zerlegen wir f in Imaginär- und Realteil,
f = Re(f) + i Im(f),
so können wir den Differenzenquotienten schreiben als
Re(f)(x) − Re(f)(p)x − p + i Im(f)(x) − Im(f)(p)x − p.
Beide Brüche sind reell und werden beim Grenzübergang „limx → p“ zu reellen Differentialquotienten. Diese Überlegungen motivieren:
Definition (Differentiation komplexwertiger Funktionen)
Sei f : P → ℂ mit P ⊆ ℝ, und sei p ∈ P. Dann heißt f differenzierbar in p, falls die Funktionen Re(f), Im(f) : P → ℝ differenzierbar in p sind. In diesem Fall heißt die komplexe Zahl
f ′(p) = Re(f)′(p) + i Im(f)′(p)
die Ableitung von f im Punkt p.
Damit haben wir die Differentiation komplexwertiger Funktionen auf die reelle Differentiation zurückgeführt. Alternativ können wir die Definition als Differentialquotient direkt übernehmen. Im Fall der Existenz gilt
f ′(p) = limx → p f (x) − f (p)x − p = limh → 0 f (p + h) − f (p)h,
mit dem Grenzwertbegriff für komplexe Zahlen.
Beispiel
Sei f : ℝ → ℂ definiert durch f (x) = ei x für alle x ∈ ℝ. Dann gilt für alle p ∈ ℝ:
f ′(p) | = Re(f)′(p) + i Im(f)′(p) = cos′(p) + i sin′(p) |
= − sin p + i cos p = i (cos p + i sin p) = i ei p = i f (p). |
Wir übernehmen alle Sprech- und Schreibweisen aus dem Reellen. Damit können wir die Aussage des Beispiels auch in der Form d/dx ei x = i ei x notieren. Allgemeiner gilt:
Satz (Ableitung von ec x)
Sei c ∈ ℂ. Dann gilt für reelle x:
ddx ec x = c ec x.
Beweis
Sei c = a + i b mit a, b ∈ ℝ. Dann gilt
ec x = ea x ei b x = ea x cos(b x) + i ea x sin(b x).
Mit der Produktregel erhalten wir:
ddx ec x | = a ea x cos(b x) − b ea x sin(b x) + i (a ea x sin(b x) + b ea x cos(b x)) |
= a ea x ei b x + i b ea x ei bx = a ec x + i b ec x = c ei x. |
Wir wollen dieses Ergebnis noch auf einem anderen Weg herleiten.
Zweiter Beweis
In Analogie zu „limx → 0 (ex − 1)/x = 1“ zeigt man, dass
limx → 0 ec x − 1x = c + limx → 0 = c + 0 = c.
Damit gilt:
ddx ec x (p) = limh → 0 ec (p + h) − ec ph = ec p limh → 0 ec h − 1h = c ec p.
Der zweite Beweis hat den Vorteil, dass an keiner Stelle die reelle Ableitung des Kosinus und Sinus verwendet wird. Umgekehrt können wir diese Ableitungen sehr leicht aus dem Satz für den Fall c = i gewinnen:
Komplexer Beweis für die Ableitungen von Kosinus und Sinus
ddx cos x + i ddx sin x | = ddx (cos x + i sin x) = ddx ei x |
= i ei x = − sin x + i cos x. |
Dieses Argument ist eleganter und methodisch konsequenter als der erste Beweis mit Hilfe der Summenformeln, benötigt aber komplexe Differentialquotienten.
Wir betrachten schließlich auch noch komplexwertige Funktionen mit komplexen Definitionsbereichen. Das genauere Studium dieser Funktionen ist Aufgabe der Funktionentheorie (engl. complex analysis).
Definition (komplexe Differentiation)
Sei f : P → ℂ mit P ⊆ ℂ, und sei p ein Häufungspunkt von P. Dann setzen wir im Fall der Existenz
f ′(p) = limz → p f (z) − f (p)z − p
und nennen f ′(p) die Ableitung von f im Punkt p.
In den Differenzenquotienten stehen nun sowohl im Zähler als auch im Nenner komplexe Zahlen. Da ℂ ein Körper ist, existieren die Quotienten. Eine analoge Begriffsbildung wäre dagegen für Funktionen f : ℝ3 → ℝ3 nicht möglich.
Tangentialvektoren
Für Funktionen der Form f : ℝ → ℝn ist dagegen ein Ableitungsbegriff möglich. Wir setzen f ′(p) = (f1′(p), …, fn′(p)), wobei die (als differenzierbar vorausgesetzten) Komponentenfunktionen fi : ℝ → ℝ definiert sind durch
f (x) = (f1(x), …, fn(x)) ∈ ℝn für alle x ∈ ℝ
Der Vektor f ′(p) heißt die Ableitung oder der Tangentialvektor von f an der Stelle p. Der Fall n = 2 entspricht der obigen Aufspaltung in Real- und Imaginärteil. Diesen Ableitungsbegriff werden wir im zweiten Band bei der Diskussion von Kurven untersuchen.
Wir übernehmen wieder die Sprech- und Schreibweisen aus dem Reellen, wobei wir nun bevorzugt z statt x verwenden und d/dz statt d/dx schreiben.
Viele Ergebnisse übertragen sich ins Komplexe. So gilt etwa
d/dz zn = n zn − 1 für alle n ≥ 1.
Auch die beiden Approximationssätze und alle Ableitungsregeln bleiben gültig, und für die komplexe Exponentialfunktion exp : ℂ → ℂ gilt wieder
d/dz ez = ez.
Es ergeben sich aber auch neue Gegenbeispiele. Für die Realteil-Funktion gilt für alle p, z ∈ ℂ:
Die stetige Funktion Re : ℂ → ℂ ist also nirgendwo differenzierbar. Analoges gilt für den Imaginärteil, den Betrag und die komplexe Konjugation auf ℂ.