Differenzenquotienten und ihr Kalkül
Wir betrachten nun noch einmal Differenzenquotienten. Aus Rechenregeln für Sekantensteigungen ergeben sich die Ableitungsregeln uniform durch ein Stetigkeitsargument.
Um die etwas sperrigen Brüche zu vermeiden, führen wir kompaktere Notationen ein.
Notation für Differenzenquotienten
Sei f : P → ℝ, und seien x, y ∈ P mit x ≠ y. Dann setzen wir:
f [ x, y ] = af(x, y) = f (y) − f (x)y − x (= f (x) − f (y)x − y).
Analoge Notationen verwenden wir für komplexe Funktionen.
Für je zwei verschiedene Stellen x, y ist f [ x, y ] die Steigung der Sekante von f an diesen Stellen. Funktional gelesen erhalten wir zweistellige Funktionen
f [ ·, · ] : Q → ℝ bzw. af : Q → ℝ mit Q = { (x, y) ∈ P2 | x ≠ y } ⊆ ℝ2.
Direkt aus der Definition der Differenzierbarkeit ergibt sich:
Satz (Charakterisierung der Differenzierbarkeit)
Sei f : P → ℝ, und sei p ∈ P. Dann sind äquivalent:
(a) | f ist an der Stelle p differenzierbar. |
(b) | Die Funktion f [ p, · ] : P − { p } → ℝ lässt sich stetig nach P fortsetzen. |
In diesem Fall ist
f ′(p) = limx → p f [ p, x ]
der eindeutige Wert der stetigen Fortsetzung von f [ p, x ] nach P.
Damit können wir den Ableitungskalkül in zwei Schritten neu etablieren:
Gewinnung der Ableitungsregeln
(1) | Wir formulieren und beweisen Regeln für Differenzenquotienten. Dabei verwenden wir die zweistellige Sekanten-Steigungsfunktion f [·, · ], um die Regeln allgemein und übersichtlich zu formulieren. |
(2) | Durch die Stetigkeit in einer Komponente erhalten wir Regeln für Differentialquotienten: Wir betrachten Grenzwerte und ersetzen limx → p f (x) durch f (p) und weiter limx → p f [ p, x ] durch f ′(p) in den Regeln aus (1). |
Der erste Schritt ist ein „Sammeln und Rechnen“. Alle Regeln des folgenden Satzes lassen sich durch einfaches Bruchrechnen ohne Grenzwerte beweisen.
Satz (Kalkül der Differenzenquotienten)
Unter der Voraussetzung der Definiertheit gilt für alle Funktionen f, g und alle x, y, c, d ∈ ℝ:
(a) | f [x, y ] = f [ y, x ](Symmetrie) |
(b) | f [x, x + h ] = f (x + h) − f (x)h(h-Formulierung) |
(c) | (c f + d g)[ x, y ] = c f [ x, y ] + d g[ x, y ](Linearität) |
(d) | (f · g) [ x, y ] = f [ x, y ] g(y) + f (x) g[ x, y ](Produktregel) |
(e) | (f/g) [ x, y ] = g(x) f [ x, y ] − f (x) g[ x, y ]g(x) g(y)(Quotientenregel) |
(f) | (g ∘ f) [ x, y ] = g[ f (x), f (y) ] · f [ x, y ](Kettenregel) |
(g) | f −1[ f (x), f (y) ] = 1f [ x, y ] f −1[ x, y ] = 1f [ f −1(x), f −1(y) ](Umkehrregeln) |
Beweis
Wir zeigen exemplarisch die Produktregel. Die anderen Regeln seien dem Leser zur Übung überlassen. Die zwei Summanden der Produktregel erhalten wir durch ein Einfügen der 0:
(f · g) [ x, y ] | = (f · g) (y) − (f · g) (x)y − x |
= f (y) g(y) − f (x) g(x)y − x | |
= f (y) g(y) − f (x) g(y)y − x + f (x) g(y) − f (x) g(x)y − x | |
= f [ x, y ] g(y) + f (x) g[ x, y ] |
Aus diesen Regeln erhalten wir wie beschrieben die Ableitungsregeln: Wir ersetzen y durch eine feste Stelle p und bilden Grenzwerte an dieser Stelle. Die Produktregel und die Kettenregel ergeben sich beispielsweise wie folgt:
Beweis der Produktregel
Sind f, g : P → ℝ differenzierbar bei p, so gilt
(f · g)′(p) | = limx → p (f · g) [ x, p ] |
= limx → p (f [ x, p ] g(p) + f (x) g[ x, p ]) | |
= f′(p) g(p) + f (p) g′(p) |
Die Differenzierbarkeit von f · g an der Stelle p wird dabei nicht vorausgesetzt, sondern (zusammen mit der Formel) mitbewiesen. Im letzten Schritt verwenden wir neben der Differenzierbarkeit von f und g bei p auch die Stetigkeit von f an der Stelle p.
Beweis der Produktregel
Die Kettenregel ergibt sich analog aus
limx → p (g ∘ f) [ x, p ] = limx → p g[ f (x), f (p) ] · f [ x, p ] = g′(f (p)) · f ′(p).
Dabei setzen wir die Differenzierbarkeit von f bei p und g bei f (p) voraus (und verwenden erneut die Stetigkeit von f an der Stelle p).
Vergleich der Methoden
Die Ableitungsregeln werden durch Berechnung von Grenzwerten
limx → p h(x) − h(p)x − p
bewiesen, wobei h = c f, f · g, f/g, f ∘ g, f −1. Die Methoden unterscheiden sich letztendlich nur in der Organisation und Durchführung der Berechnung. Dabei werden jedoch unterschiedliche Anschauungen betont und entwickelt, die auch an anderen Stellen wertvoll sind. Die Produktregel ist ein besonders schönes Beispiel hierfür: Bei Verwendung des ersten Approximationssatzes in der o-Notation ergibt sie sich durch Ausmultiplizieren und Aufsammeln von vernachlässigbaren Summanden. Bei der obigen Argumentation erscheint sie als Grenzwert einer leicht nachzuweisenden Regel für das Produkt von Sekantensteigungen.
Es ist überraschend, dass ein Kalkül der Differenzenquotienten in der Literatur offenbar wenig Beachtung findet (frühere Versionen dieses Buches eingeschlossen). Der Kalkül lässt sich einfach beweisen und bringt die Form der Ableitungsregeln ans Licht. Zudem wird die Rolle der Stetigkeit besonders betont. Das Fehlen einer kompakten, allgemein verwendeten Notation für Differenzenquotienten mag dazu beitragen, dass diese Variante vernachlässigt ist. Sie ist einfach und elegant. Sekantensteigungen und das Rechnen mit ihnen spielen zudem bei der Krümmung einer Funktion eine Schlüsselrolle, sodass es sich lohnt, mit ihnen vertraut zu sein.