Mehrfache Differenzierbarkeit
Die Ableitung f ′ : P → ℝ einer differenzierbaren Funktion f : P → ℝ können wir auf Differenzierbarkeit untersuchen. Allgemein können wir im Fall der Existenz die mehrfachen Ableitungen
f ″ = (f ′)′, f′′′ = (f ″)′, …
bilden. Die zweite Ableitung f ″ hatten wir bereits für den Kosinus und Sinus betrachtet: cos″ = − cos, sin″ = − sin. Nun wollen wir diese Operation genauer untersuchen. Die folgenden Beispiele zeigen, dass f ′ nicht immer differenzierbar und sogar nicht immer stetig sein muss.
Beispiel: Verlust der Differenzierbarkeit
Wir definieren f : ℝ → ℝ durch
Dann ist f differenzierbar, und es gilt
Die Differenzierbarkeit an der „Nahtstelle“ 0 ergibt sich aus
limx ↓ 0 f (x) − f (0)x − 0 = limx ↑ 0 f (x) − f (0)x − 0 = 0.
f ′ hat an der Stelle 0 einen Knick und ist dort nicht differenzierbar.
Beispiel: Verlust der Stetigkeit
Wir definieren f : ℝ → ℝ durch
Dann gilt für alle x ≠ 0 nach der Produkt- und Kettenregel
f ′(x) = 2 x sin(1/x) − x2 cos(1/x)x2 = 2 x sin(1/x) − cos(1/x).
Im Nullpunkt berechnen wir den Differentialquotienten direkt zu
limh → 0 f (h) − f (0)h = limh → 0 h sin(1/h) = 0.
Also ist f differenzierbar. Weiter gilt
limx → 0 2x sin(1/x) = 0, limx → 0 cos(1/x) existiert nicht.
Damit existiert limx → 0 f ′(x) nicht, sodass f ′ unstetig im Punkt 0 ist.
Die Variante „f (x)= x2 sin(1/x2) für x ≠ 0, f (0) = 0“ liefert ein Beispiel mit einer auf jedem kompakten Intervall [ − ε, ε ] unbeschränkten Ableitung.
Die Ableitung f ′ im zweiten Beispiel besitzt keine einfache Sprungstelle, sondern weist den Unstetigkeitstyp der zweiten Art einer grenzwertlosen Werteverdichtung auf. In der Tat können beim Ableiten keine Unstetigkeiten erster Art auftreten. Einige der guten Eigenschaften stetiger Funktionen gelten deswegen auch noch für die Ableitung, allen voran ein Analogon zum Nullstellen- und Zwischenwertsatz. Dies werden wir im nächsten Kapitel beweisen.
Unsere Überlegungen motivieren die folgenden Begriffsbildungen.
Definition (stetige Differenzierbarkeit)
Eine differenzierbare Funktion f : P → ℝ heißt stetig differenzierbar oder eine 𝒞1-Funktion, falls f ′ : P → ℝ stetig ist.
Allgemeiner definieren wir:
Definition (mehrfache Ableitungen, stetige Differenzierbarkeit, glatte Funktion)
Sei f : P → ℝ. Dann definieren wir rekursiv die n-te Ableitung f (n) : P → ℝ von f, solange die Ableitungen existieren:
f (0) = f, f (n + 1) = f (n)′ für alle n.
Wir schreiben auch (d/dx)n f, (dnf/dxn) oder (dn/dxn)f für f (n).
Weiter nennen wir f
(a) | n-mal differenzierbar in einem Punkt p ∈ P, falls f (n − 1) und f (n − 1)′(p) existieren, |
(b) | n-mal differenzierbar, falls f (n) existiert, |
(c) | n-mal stetig differenzierbar oder eine 𝒞n-Funktion, falls f (n) existiert und stetig ist, |
(d) | glatt oder eine 𝒞∞-Funktion, falls f (n) für alle n existiert. |
Es gelten die Implikationen:
f ist 𝒞(n + 1) ↷ f (n + 1) existiert ↷ f ist 𝒞n.
Die Umkehrungen gelten im Allgemeinen nicht. Obige Beispiele zeigen dies für n = 1, und die Funktionen lassen sich für n ≥ 2 geeignet modifizieren.
Alle Polynome sind glatt und ebenso sind
exp, log, sin, cos, …
glatt. Diese Funktionen haben keine „verborgenen Knicke“, die erst durch mehrfache Ableitung ans Licht kommen.
Mit Hilfe der mehrfachen Ableitungen werden wir später quadratische bzw. polynomielle Approximationen an eine Funktion f in einem Punkt p definieren. Sie lassen sich verwenden, wenn die Tangente nicht gut genug ist.