Die Regeln von l’Hospital
Bei der Berechnung von Grenzwerten der Quotientenform
limx → p f (x)g(x)
tritt oft einer der nicht definierten Fälle „0/0“, oder „± ∞/ ± ∞“ auf, etwa in
(+) limx → 0 sin xx, limx → 0 x − sin xx sin x, limx → ∞ log(x)xa für ein a > 0.
Zur Berechnung derartiger Grenzwerte ist in vielen Fällen der Übergang zu den Ableitungen f ′ und g′ hilfreich. Ein erstes Ergebnis hierzu ist:
Satz („nullte Regel“ von l’Hospital)
Sind f, g : P → ℝ differenzierbar in p ∈ P mit f (p) = g(p) = 0, g′(p) ≠ 0, so gilt
limx → p f (x)g(x) = f ′(p)g′(p) .
Beweis
limx → p f (x)g(x) = limx → p (f (x) − f (p))/(x − p)(g(x) − g(p))/(x − p) = f ′(p)g′(p).
Damit lassen sich bereits einige Grenzwerte sehr einfach bestimmen:
Beispiele
(1) | limx → 0 tan xx = 1/cos2(0)1 = 1. |
(2) | limx → 0 arcsin xarctan x = = 1. |
f (x) = tan(x)x, stetig nach 0 fortgesetzt
g(x) = arcsin xarctan x, stetig nach 0 fortgesetzt
Die Voraussetzungen an f und g im Punkt p sind zuweilen hinderlich, und auch uneigentliche Grenzwerte sind nicht abgedeckt. Um weitere Fälle behandeln zu können (f, g nicht differenzierbar in p oder g′(p) = 0 oder p = ± ∞), beweisen wir eine Verallgemeinerung des Mittelwertsatzes.
Satz (allgemeiner Mittelwertsatz der Differentialrechnung von Cauchy)
Seien f, g : [ a, b ] → ℝ stetig und in ] a, b [ differenzierbar. Dann existiert ein p ∈ ] a, b [ mit
(f (b) − f (a)) g′(p) = (g(b) − g(a)) f ′(p).
Ist g die Identität, so ist g′(p) = 1 und g(b) − g(a) = b − a, und damit geht der Satz in den alten Mittelwertsatz über.
Beweis
Wir definieren h : [ a, b ] → ℝ durch
h(x) = (f (b) − f (a)) g(x) − (g(b) − g(a)) f (x).
Dann ist h differenzierbar in ] a, b [, und es gilt
h(a) = f (b) g(a) − g(b) f (a) = h(b).
Nach dem Satz von Rolle gibt es ein p ∈ ] a, b [ mit h′(p) = 0, sodass
(f (b) − f (a)) g′(p) − (g(b) − g(a)) f ′(p) = 0.
Nach diesen Vorbereitungen können wir nun unseren Kalkül der Grenzwertbestimmung substantiell erweitern:
Satz (Regeln von l’Hospital)
Seien f, g : ] a, b [ → ℝ, − ∞ ≤ a < b ≤ ∞, differenzierbar mit g′(x) ≠ 0 für alle x. Es gelte:
(a) limx → b f (x) = limx → b g(x) = 0 oder (erste Voraussetzung)
(b) limx → b g(x) = ± ∞. (zweite Voraussetzung)
Existiert c = limx → b f ′(x)g′(x) ∈ [ −∞, ∞ ], so gilt
limx → b f (x)g(x) = c.
Eine analoge Aussage gilt für Grenzwerte „limx → a“.
Die Aussage des Satzes bei Vorliegen der Voraussetzung (a) bzw. (b) wird auch als erste bzw. zweite Regel von l’Hospital bezeichnet.
Beweis
Da g′ keine Nullstelle besitzt, gilt g′ > 0 oder g′ < 0 nach dem Nullstellensatz der Differentialrechnung. Also besitzt g als streng monotone Funktion höchstens eine Nullstelle. Limesbildungen gegen Randpunkte mit g im Nenner sind damit unproblematisch, und wir dürfen annehmen, dass g(x) ≠ 0 für alle x gilt.
Nach dem verallgemeinerten Mittelwertsatz gibt es für je zwei verschiedene x, y in ] a, b [ ein p = p(x, y) zwischen x und y mit
(f (b) − f (a)) g′(p) = (g(b) − g(a)) f ′(p).
Eine algebraische Umformung liefert
(+) f (x)g(x) = f (y)g(x) + f ′(p)g′(p) (1 − g(y)g(x)).
Ist nun (xn)n ∈ ℕ eine streng monoton gegen b konvergente Folge in ] a, b [, so können wir im Fall (1) eine Teilfolge (yn)n ∈ ℕ von (xn)n ∈ ℕ mit yn > xn für alle n und im Fall (2) eine Folge (yn)n ∈ ℕ der Form
x0, …, x0, x1, …, x1, x2, …, x2, …, xn, …, xn, …
mit yn < xn für alle n ≥ 1 finden, sodass für die derart beschleunigt bzw. verlangsamt gegen b konvergente Folge (yn)n ∈ ℕ gilt:
limn f (yn)g(xn) = limn g(yn)g(xn) = 0.
Aus (+) folgt die Behauptung, da limn pn = b für pn = p(xn, yn).
Beispiele
f (x) = , stetig nach 1 fortgesetzt
(1) | Die obere Kreislinie und der Arkuskosinus sind im Punkt 1 nicht differenzierbar, aber nach der ersten Regel gilt limx ↑ 1 = limx ↑ 1 = 1. |
(2) | Gilt weder (a) noch (b), so kann Differenzieren falsch sein: limx ↑ π/2 sin′(x)cos′(x) = limx ↑ π/2 cos x− sin x = 0, limx ↑ π/2 sin xcos x = limx ↑ π/2 tan x = ∞. |
Manchmal führt erst eine mehrfache Anwendung der Regeln zum Ziel:
f (x) = 1sin x − 1x, g(x) = 1 − cos xsin x + x cos x
Beispiel
Wir zeigen, dass
limx → 0 1sin x − 1x = 0.
Es gilt
1sin x − 1x = x − sin xx sin x
für alle x ∈ ] 0, π [. Nach der ersten Regel gilt
limx ↓ 0 x − sin xx sin x = limx ↓ 0 1 − cos xsin x + x cos x,
vorausgesetzt, der Grenzwert rechts existiert. Diesen Grenzwert können wir aber durch eine erneute Anwendung der ersten Regel bestimmen:
limx ↓ 0 1 − cos xsin x + x cos x = limx ↓ 0 sin x2 cos x − x sin x = 02 = 0.
Analoges gilt für „x ↑ 0“, und damit haben wir insgesamt gezeigt, dass
limx → 0 (1sin x − 1x) = 0.
Der wiederholten Anwendung der Regeln von l’Hospital sind aber auch Grenzen gesetzt. Aus rechnerischer Sicht können die Ableitungsterme sehr schnell kompliziert werden, und auch aus theoretischer Sicht kann das Ziel manchmal gar nicht erreicht werden.
Beispiel
Für den Tangens Hyperbolicus tanh = sinh/cosh liegt der Typ „∞/∞“ für „x → ∞“ vor. Bei der wiederholten Anwendung der zweiten Regel drehen wir uns wegen sinh′ = cosh und cosh′ = sinh im Kreis:
limx → ∞ sinh xcosh x = limx → ∞ cosh xsinh x = limx → ∞ sinh xcosh x = …
Die Regel liefert hier also nicht das gewünschte Ergebnis
limx → ∞ sinh xcosh x = limx → ∞ tanh x = 1.