Schmiegeparabeln
Zur Ermittlung einer Formel für den Krümmungsradius einer in p zweimal differenzierbaren Funktion f mit f ″(p) ≠ 0 haben wir einen Kreis konstruiert, der sich an f im Punkt (p, f (p)) bestmöglich anschmiegt. Ist h : ] p − ε, p + ε [ → ℝ eine Darstellung dieses Kreises in einer Umgebung von p, so gilt
h(p) = f (p), h′(p) = f ′(p), h″(p) = f ″(p).
Einfacher ist die Konstruktion einer entsprechenden Parabel. Definieren wir
(+) g(x) = f (p) + f ′(p) (x − p) + f ″(p)2 (x − p)2 für alle x ∈ ℝ,
so ist g : ℝ → ℝ ein Polynom vom Grad kleinergleich 2 mit
(++) g(p) = g(p), g′(p) = f ′(p), g″(p) = f ″(p).
Dies gilt auch im Fall f ″(p) = 0, wobei dann g in die Tangente an f in (p, f (p)) übergeht. Wir definieren:
Definition (Schmiegeparabel)
Sei f : P → ℝ zweimal differenzierbar in p ∈ P. Dann heißt das Polynom g wie in (+) die Schmiegeparabel an f im Punkt (p, f (p)).
Schmiegeparabel g im Vergleich
zum Krümmungskreis K
Die Schmiegeparabel lässt sich als Verbesserung der lokalen Ersetzung von f durch eine Tangente ansehen. Sie berücksichtigt nicht nur den Funktionswert und die Steigung, sondern auch die Krümmung an der betrachteten Stelle. Später werden wir allgemeiner Polynome gn vom Grad kleinergleich n definieren mit
(+++) gn(p) = gn(p), gn′(p) = f ′(p), …, g(n)n(p) = f (n)(p),
die Taylor-Polynome von f. Die Tangenten und Schmiegeparabeln entsprechen den Spezialfällen n = 1 bzw. n = 2. Der Leser kann die Form der Taylor-Polynome gn durch Betrachtung und Verallgemeinerung von (+) bereits an dieser Stelle erkennen. Sie sind zudem durch die Bedingung (+++) eindeutig bestimmt.
Die im Vergleich zu den Tangenten höhere Approximationsgüte der Schmiegeparabeln präzisiert der folgende Satz.
Satz (quadratischer Approximationssatz, Satz von Peano)
Sei f : I → ℝ zweimal differenzierbar in p ∈ I, und sei g die Schmiegeparabel an f im Punkt (p, f (p)). Dann gilt für r = f − g auf P:
limx → p r(x)(x − p)2 = 0.
Beweis
Mit der ersten Regel von l’Hospital und der Definition von f ″(p) als Differentialquotient gilt:
limx → p r(x)(x − p)2 = limx → p f (x) − f (p) − f ′(p) (x − p)(x − p)2 − f ″(p)2
= limx → p f ′(x) − f ′(p)2 (x − p) − f ″(p)2 = f ″(p) − f ″(p)2 = 0.
In der o-Notation von Bachmann-Landau lautet das Ergebnis:
f (x) = f (p) + f ′(p) (x − p) + f ″(p)2 (x − p)2 + o((x − p)2) für x → p.
Eine Schmiegeparabel g und die stetig
nach p fortgesetzte Funktion s mit
s(x) = f (x) − g(x)(x − p)2 für x ≠ p
Für eine Parabel h mit h(p) = f (p),
h′(p) = f ′(p), h″(p) ≠ f ″(p) gilt
limx → p f (x) − h(x)(x − p)2 ≠ 0.
Im Gegensatz zur ersten Ableitung ist keine Umkehrung mehr gültig: Aus
f (x) = f (p) + a (x − p) + b (x − p)2 + o((x − p)2) für x → p
folgt im Allgemeinen nicht, dass f ″(p) existiert. Für f : ℝ → ℝ mit
f (x) = x3 sin(1/x) für alle x ∈ ℝ
gilt zum Beispiel f (x) = o(x2) für x → 0, aber f ″(0) existiert nicht.