Taylor-Reihen
Bislang haben wir uns mit lokalen Approximationen und Restgliedabschätzungen beschäftigt. Nun wenden wir uns der Frage nach exakten Darstellungen zu. Wir definieren hierzu:
Definition (Taylor-Reihe einer Funktion)
Sei f : P → ℝ beliebig oft differenzierbar in p ∈ P. Dann definieren wir, für alle x ∈ ℝ, die Taylor-Reihe Tp f (x) von f im Entwicklungspunkt p an der Stelle x durch
Tp f (x) = ∑n f (n)(p)n! (x − p)n.
Weiter definieren wir:
Kf, p = { x ∈ ℝ | Tp f (x) konvergiert },(Konvergenzbereich von Tp f)
Df, p = { x ∈ Kf, p ∩ P | Tp f (x) = f (x) }.(Darstellungsbereich von Tp f)
Taylor-Reihen sind die natürliche Fortsetzung der Taylor-Approximation endlicher Ordnung ins Unendliche. Es gilt gilt:
Kf, p ⊇ Df, p = { x ∈ P | limn rn(x) = 0 } ⊇ { p },
wobei wieder rn : P → ℝ, rn(x) = f (x) − Tnpf (x) das Restglied n-ter Ordnung für den Entwicklungspunkt p ist.
Wir betrachten einige Beispiele.
Beispiele
(1) | Eine Berechnung der Ableitungen zeigt, dass für exp, cos, sin die Taylor-Reihen für p = 0 die üblichen Reihen sind: T0 exp (x) = ∑n xnn!, T0 cos (x) = ∑n (−1)n x(2n)(2n)!, T0 sin (x) = ∑n (−1)n x(2n + 1)(2n + 1)!. Es gilt Dexp, 0 = Kexp, 0 = ℝ. Analoges gilt für cos und sin. |
(2) | Für die Funktion f : ℝ − { 1 } → ℝ mit f (x) = 11 − x für alle x ≠ 1 gilt f (n)(0) = n! für alle n und damit ist T0 f die geometrische Reihe: T0f (x) = ∑n xn, Kf, 0 = Df, 0 = ] −1, 1 [. |
Das zweite Beispiel zeigt, dass die Taylor-Reihe von f manchmal nur in einer Umgebung des Entwicklungspunktes mit f übereinstimmt, obwohl f auch außerhalb dieser Umgebung definiert ist. Dies wird auch durch einen Blick auf die obigen Diagramme deutlich, die die Konvergenzbereiche der Taylor-Reihen für die gezeigten Funktionen erahnen lassen. Es stellt sich die folgende Frage für glatte Funktionen f : I → ℝ und einen Entwicklungspunkt p ∈ I:
Gilt immer f (x) = Tp f (x), wenn beide Seiten definiert sind?
Anders formuliert: Gilt immer Kf, p ∩ I = Df, p ?
Das folgende berühmte Gegenbeispiel beantwortet diese Frage negativ.
Satz (Nullreihe als Taylor-Reihe, Gegenbeispiel von Cauchy 1826)
Es gibt eine glatte Funktion f : ℝ → ℝ, deren Taylor-Reihe überall konvergiert, aber nur im Entwicklungspunkt mit f übereinstimmt. Konkret gilt dies für die Funktion f : ℝ → ℝ mit
und den Entwicklungspunkt p = 0. Es gilt T0 f (x) = 0 für alle x ∈ ℝ.
Beweis
Es gilt f (n)(0) = 0 für alle n (Übung). Damit gilt für alle n ∈ ℕ und x ∈ ℝ:
Tn0 f (x) = ∑k ≤ n f (k)(0)k! (x − 0)k = 0,
T0 f (x) = ∑n f (n)(0)n! (x − 0)n = 0.
Die Taylor-Reihe von f konvergiert also überall gegen 0, stimmt aber nur im Nullpunkt mit f überein.
Die Funktion f zeigt, dass die Taylor-Polynome nicht in jedem Fall mit immer größer werdendem Entwicklungsgrad immer näher an den Funktionswerten liegen, auch nicht in einer kleinen Umgebung des Entwicklungspunktes. f ist im Nullpunkt derart flach, dass auch die besten polynomiell auflösenden Mikroskope sie dort nicht von der Nullfunktion unterscheiden können. Zur Illustration betrachten wir f zusammen mit den Ableitungen f ′ und f ″:
Definieren wir g : ℝ → ℝ durch
so konvergiert die Taylor-Reihe T0 g genau auf dem Intervall ] −∞, 0 ] gegen g. Diese Variante zeigt, dass die Übereinstimmung von Tp g mit g nicht symmetrisch um den Entwicklungspunkt p sein muss.
Das Konvergenzproblem im Reellen
Für welche f und x konvergiert nun Tpf (x) gegen f (x)? Es gibt in der reellen Analysis keine einfache Antwort auf diese Frage. Die polynomielle Taylor-Entwicklung liefert „nur“ − und dieses „nur“ ist wirklich in Anführungszeichen zu setzen − lokale Approximationen beliebig hoher Ordnung. Wir erhalten sich an f anschmiegende Polynome beliebig hohen Grades mit der im Satz von Peano garantierten Approximationsgüte. Nicht mehr und nicht weniger. Dass in vielen Fällen die Taylor-Reihe einer Funktion die Funktion überall oder zumindest in einer Umgebung des Entwicklungspunktes exakt darstellt, ist ein Phänomen, das sich erst innerhalb der Funktionentheorie vollends würdigen und verstehen lässt. Dort fallen alle „pathologischen“ Gegenbeispiele des Reellen weg, denn es gilt:
Satz (Taylor-Entwicklung in ℂ)
(a) | Ist f : ℂ → ℂ differenzierbar und p ∈ ℂ, so gilt f (x) = Tpf (x) für alle x ∈ ℂ. (globale Reihen-Darstellung) |
(b) | Ist p ∈ ℂ, r > 0 und f : Ur(p) → ℂ differenzierbar, so gilt f (x) = Tpf (x) für alle x ∈ Ur(p). (Reihen-Darstellung in offenen Kreisscheiben) |
Dabei wird die komplexe Differenzierbarkeit von f : P → ℂ, P ⊆ ℂ, genau wie im Reellen über die Existenz der Differentialquotienten
f ′(p) = limz → p f (z) − f (p)z − p ∈ ℂ (komplexer Differentialquotient)
erklärt (vgl. den Ausblick in 4. 1), aber die im Vergleich zu den reellen Zahlen komplexere Konvergenz von z gegen p in P erzwingt bessere Eigenschaften für differenzierbare Funktionen. Die im Komplexen gewonnenen Konvergenzergebnisse übertragen sich dann ins Reelle, und damit ermöglicht die komplexe Analysis oft die Bestimmung der Konvergenzbereiche der reellen Taylor-Reihen. Einige positive Ergebnisse lassen sich aber, wie wir nun zeigen wollen, auch mit reellen Methoden gewinnen.