Der Ring der Potenzreihen

 Wir betrachten die formalen (durch die reelle Koeffizientenfolge (an)n  ∈   bestimmten) Potenzreihen n an xn aus algebraischer Sicht. Sie bilden wir die reellen Polynome einen Ring:

Definition (Ring der Potenzreihen)

Wir setzen

[[ x ]]  =  { n an xn | an  ∈   für alle n }

und definieren für alle n an xn, n bn xn  ∈  [[ x ]]:

n an xn  + 1 bn xn  =  n (an + bn) xn,

n an xn  · 1 bn xn  =  n cn xn  mit  cn  =  k ≤ n ak bn − k  für alle n.

Weiter setzen wir

0  =  n 0 xn,  1  =  n δn,0 xn  =  1 + n 0 xn.

([[ x ]], +, ·, 0, 1) heißt der Ring der (formalen) Potenzreihen über .

 Die Addition ist punktweise, das Produkt ist das Cauchy-Produkt. Wir erhalten einen kommutativen Ring mit Eins.

 Die Betonung von „formal“ bedeutet, dass wir (zunächst) keine Funktionen betrachten, keine Werte einsetzen und keine Konvergenzfragen stellen. Besonders deutlich wird dies durch die in der Algebra bevorzugte Definition

[[ x ]]  =  { (an)n  ∈   | an  ∈   für alle n },

(an)n  ∈    +  (bn)n  ∈    =  (an + bn)n  ∈  ,

(an)n  ∈    ·  (bn)n  ∈    =  (cn)n  ∈    mit  cn = k ≤ n ak bn − k,

c  =  (c, 0, 0, …)  für alle c  ∈    (speziell für c = 0 und c = 1).

Die Unbestimmte x kommt durch die Hintertür herein und stellt sich vor als

x  =  (0, 1, 0, 0, 0, …).

Mit dieser Definition von x lässt sich leicht beweisen, dass

(an)n  ∈    =  n an xn  für alle (an)n  ∈    ∈  [[ x ]].

Damit haben wir die vertraute Summenschreibweise wiedergefunden, mit der wir wie bisher arbeiten. Der formale Weg hat den Vorteil vollkommener Klarheit, beruht auf aber Intuitionen aus einer anderen Welt. Er ist, wie so oft in der Mathematik, eine Präzisierung.

Einheiten im Ring der Potenzreihen

 Wie in jedem Ring stellt sich die Frage, welche Elemente Einheiten sind, d. h. multiplikative Inverse besitzen. Wir fragen also, gegeben n bn xn, nach der Existenz einer Potenzreihe n cn xn mit

n bn xn  ·  n cn xn  =  1.

Nach Definition der Multiplikation ist dies genau dann der Fall, wenn

b0 c0  =  1,

b0 cn  +  b1 cn − 1  +  …  +  bn − 1 c1  +  bn c0  =  0  für alle n ≥ 1.

Durch Auflösen nach cn erhalten wir:

Satz (Einheiten im Ring der Potenzreihen)

Eine Potenzreihe n bn xn ist genau dann invertierbar, wenn b0 ≠ 0. In diesem Fall gilt (n bn xn)−1 = n cn xn mit

c0  =  b0−1,

cn  =  − b0−1 (b1 cn − 1  +  …  +  bn c0)  =  − b0−1 1 ≤ k ≤ n bk cn − k  für n ≥ 1.

Ein instruktives Beispiel ist die geometrische Reihe:

Beispiel

Wir betrachten die Potenzreihe 1 − x mit den Koeffizienten b0 = 1, b1 = −1, bn = 0 für alle n ≥ 2. Die Invertierung liefert die Koeffizienten

c0  =  1/1  =  1,

c1  =  − (− b1 c0)  =  − (−1)  =  1,  c2  =  − (b1 c1 + 0)  =  − (−1)  =  1.

Induktiv erhalten wir cn = 1 für alle n, sodass

(1 − x)−1  =  n xn.(geometrische Reihe)

Hier ist an keiner Stelle von Grenzwerten die Rede. Die Identität

(n xn) (1 − x)  =  1

haben wir rein algebraisch aus dem Cauchy-Produkt der Multiplikation von Potenzreihen gewonnen. Kürzer lässt sich dies mit dem Distributivgesetz durch

(n xn) (1 − x)  =  n xn  −  x n xn  =  n xn  −  n xn + 1  =  1

einsehen. Hier müssen wir das Inverse raten oder kennen, während die rekursive Berechnung eine Bestimmung des Inversen ermöglicht. Im Allgemeinen lassen sich die rekursiv erzeugten Koeffizienten nicht derart einfach explizit angeben.

 Allgemeiner liefert die Methode eine Formel für die Division (Beweis als Übung):

Satz (Division von Potenzreihen)

Seien n an xn, n bn xn Potenzreihen mit b ≠ 0. Dann gilt

nanxnnbnxn  =  n cn xn  mit  cn  =  b0−1 (an  −  1 ≤ k ≤ n bk cn − k)  für alle n.

 Für a0 = 1 und a1 = a2 = … = 0 erhalten wir die Rekursionsformel für die Invertierung.

Der Ableitungsoperator

Definition (Ableitung einer Potenzreihe)

Wir definieren D : [[ x ]]  [[ x ]] durch

D (n an xn)  =  n ≥ 1 n an xn − 1  für alle Potenzreihen n an xn.

 Das gliedweise Differenzieren wird also zur Definition erhoben. Es werden keine Differentialquotienten gebildet. Die Grundregel D(xn) = n xn − 1 ist einfach da. Leicht nachzuweisen sind die für alle f, g  ∈  [[ x ]] und a, b  ∈   gültigen Rechenregeln:

D(a f + b g)  =  a D(f)  +  b D(g),(Linearität)

D(fg)  =  D(f) g  +  f D(g),(Produktregel)

D(f)  =  0  genau dann, wenn  f = c  für ein c  ∈  .(Ableitung Null)

Die Exponentialreihe wird wie üblich definiert durch

exp(x)  =  n n!−1 xn.

Es gilt D(exp) = exp und aus „D(f) = f“ folgt, dass f = c exp mit c = f (0), wobei f (0) der 0-Koeffizient der Potenzreihe f ist (Beweis als Übung).

 Für eine Potenzreihe f (x) = n an xn sei f (−x) die Potenzreihe n (−1)n an xn. Mit Hilfe des Differentialoperators können wir leicht zeigen:

Satz (Invertierung von exp)

Es gilt exp(x)−1 = exp(−x) = n (−1)n (n!)−1 xn.

Die Invertierungsformel und eine direkte Verifikation von exp(x) · exp(−x) = 1 führen zu alternierenden Summen von Binomialkoeffizienten. Das ist hübsch, aber es ist einfacher, die Ableitungsregel D(f (−x)) = − D(f (x)) zu verwenden. Damit gilt D(exp(x) exp(−x)) = 0 nach der Produktregel, sodass exp(x) exp(−x) = c für ein c. Aus c = exp(0) exp(−0) = 1 · 1 = 1 folgt die Behauptung.

Kosinus und Sinus und der Satz des Pythagoras

 Die Kosinus- und Sinusreihe sind im Ring der Potenzreihen durch die üblichen Reihen definiert:

cos(x)  =  n a2n x2n mit  a2n = (−1)n/(2n)!,
sin(x)  =  n b2n + 1 x2n +1 mit  b2n + 1 = (−1)n/(2n + 1)!.

Der Kosinus ist gerade (Nullkoeffizienten bei ungeraden Potenzen), ten), der Sinus ungerade (Nullkoeffizienten bei geraden Potenzen). Zur Berechnung der Quadrate dieser Reihen zeigen wir allgemein:

Satz (Quadratur von geraden und ungeraden Potenzreihen)

(a)

Sei n a2n x2n eine gerade Potenzreihe. Dann gilt

(n a2n x2n)2  =  n c2n x2n  mit  c2n = k ≤ n a2k a2(n − k).

(b)

Sei n b2n + 1 x2n + 1 eine ungerade Potenzreihe. Dann gilt:

(n b2n + 1 x2n + 1)2  =  n ≥ 1 d2n x2n  mit  d2n = k < n b2k + 1 b2(n − k) − 1.

 Mit Hilfe dieser Formeln können wir nun zeigen:

Satz (Potenzreihen für cos2 und sin2; Satz des Pythagoras)

Es gilt:

(a)

cos(x)2  =  1  +  n ≥ 1 (−1)n 22n − 1(2n)! x2n,

(b)

sin(x)2  =  n ≥ 1 (−1)n − 1 22n − 1(2n)! x2n,

(c)

cos(x)2 + sin(x)2  =  1.

Beweis

Mit den Bezeichnungen wie im Satz oben gilt c0 = 1 und für alle n ≥ 1:

c2n =  k ≤ n (−1)k(2k)! (−1)n − k(2(n − k))!  =  (−1)n 22n − 1(2n)!,
d2n =  k ≤ n (−1)k(2k + 1)! (−1)n − k − 1(2(n − k) − 1)!  =  (−1)n − 1 22n − 1(2n)!.

Dabei haben wir für die Binomialkoeffizienten die Formeln verwendet:

k ≤ n 2n2k  =  k ≤ n 2n2k+1  =  22n − 1.(„halbe Potenzmenge“)