Potenzreihen in ℂ
Potenzreihen lassen sich auch in ℂ studieren und sie spielen dort eine noch größere Rolle als in der reellen Analysis. Eine komplexe Potenzreihe (in der komplexen Variablen z) hat die Form
∑n an (z − c)n
mit Koeffizienten an ∈ ℂ und einem Entwicklungspunkt c ∈ ℂ. Viele Ergebnisse aus dem Reellen gelten, bei identischer Argumentation, auch für die komplexen Potenzreihen. Aus Konvergenzintervallen werden nun Konvergenzkreise, und aus den Randpunkten eines Konvergenzintervalls wird eine Kreislinie. Definieren wir wieder
R = sup { |z| | z ∈ ℂ, ∑n an zn konvergiert } ≤ ∞,
so konvergiert die Potenzreihe ∑n an (z − c)n auf der offenen Kreisscheibe
UR(c) = { z ∈ ℂ | |z − c| < R }
gegen eine stetige Funktion. Für z ∈ ℂ mit |z − c| > R divergiert die Reihe und für z ∈ ℂ mit |z − c| = R ist keine allgemeine Aussage möglich. Für Spezialfälle gibt es aber interessante Ergebnisse. Ein Beispiel ist:
Satz (komplexe Potenzreihen mit monotonen Nullfolgen als Koeffizienten)
Sei (an)n ∈ ℕ eine monoton fallende Nullfolge in ℝ. Dann konvergiert die Potenzreihe ∑n an zn für alle z ∈ ℂ mit |z| ≤ 1, z ≠ 1.
Beweis
Sei also z ∈ ℂ mit |z| ≤ 1, z ≠ 1. Dann gilt für alle n:
|∑k ≤ n zk| = | 1 − zn + 11 − z | ≤ | 21 − z |.
Die Partialsummen der Reihe ∑n zn sind also beschränkt. Nach dem aus der Abelschen Summation gewonnenen Konvergenzsatz für Produktsummen konvergiert also die Reihe ∑n an zn.
Der Leser beachte, dass hier nur der Fall
|z| = 1 = „der Konvergenzradius R der Reihe“
neu ist. Denn für |z| < 1 konvergiert ∑n an zn aufgrund der absoluten Konvergenz von ∑n zn, und ist R > 1, so ist die Aussage trivial.
Ein überraschender Unterschied zu den reellen Potenzreihen ist, dass der Abelsche Grenzwertsatz nicht mehr uneingeschränkt gilt: Im Fall der Konvergenz einer komplexen Potenzreihe in einem Randpunkt p des Konvergenzkreises ist die durch die Potenzreihe definierte Funktion dort im Allgemeinen nicht mehr stetig. Immerhin gilt noch, dass f (z) gegen f (p) konvergiert, wenn sich z radial an den Randpunkt p annähert, d. h., es gilt
limz → p, z ∈ C f (z) = f (p) mit C = { α p | 0 ≤ α < 1 }.
Da im Reellen jede Annäherung an einen Randpunkt des Konvergenzintervalls radial ist, kann man die Aussage durchaus als eine Verallgemeinerung des Abelschen Grenzwertsatzes ins Komplexe lesen.
Eine wichtige Folgerung aus der Konvergenzanalyse ist, dass sich reelle Funktionen automatisch nach ℂ fortsetzen lassen, wenn sie durch konvergente Potenzreihen gegeben sind. Konvergiert die reelle Potenzreihe
∑n an (x − p)n
im Intervall ] p − R, p + R [, so konvergiert die komplexe Potenzreihe
∑n an (z − p)n
automatisch in der offenen Kreisscheibe UR(p). Damit können wir zum Beispiel die Kosinus- und Sinusfunktionen auf ganz ℂ erklären, indem wir setzen:
cos(z) = ∑n (−1)n z2n(2n)!, sin(z) = ∑n (−1)n z2n + 1(2n + 1)! für alle z ∈ ℂ.
Die reellen Formeln
cos(x) = Re(exp(ix)), sin(x) = Im(exp(ix))
übertragen sich ins Komplexe, wenn wir die geometrisch motivierten Formeln für den Realteil- und Imaginärteil verwenden:
cos(z) = exp(iz) + exp(− iz)2, sin(z) = exp(iz) − exp(− iz)2i.
Der Satz über das gliedweise Differenzieren bleibt auch für komplexe Potenzreihen und die komplexe Differentiation gültig (vgl. den Ausblick in 4. 2). Damit gilt wie im Reellen
ddz exp(z) = exp(z), ddz cos(z) = − sin(z), ddz sin(z) = cos(z)
für alle z ∈ ℂ.
Der Ring der formalen Potenzreihen lässt sich auch über ℂ konstruieren (und allgemeiner über jedem kommutativen Ring mit Eins). Die Koeffizienten an einer Potenzreihe ∑n an zn sind nun komplexe Zahlen. Wir bezeichnen den Ring mit ℂ[[ z ]] (wobei wieder z = (0, 1, 0, 0, 0, …)). Die obigen algebraischen Ergebnisse für ℝ[[ x ]] bleiben gültig.