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Die geometrische Deutung der Multiplikation in ℂ
Wir beweisen die geometrische Multiplikationsregel mit Hilfe elementargeometrischer Argumentation. Ausgangspunkt ist die folgende Charakterisierung der komplexen Multiplikation:
Ergänzungsübung 1
Sei K = (ℝ2, +, ∗) ein Körper. Die Addition + sei die Vektoraddition im ℝ2.
Für die Multiplikation ∗ gelte:
(a) | (x, 0) ∗ (x1, y1) = (x x1, x y1) für alle x, x1, y1 ∈ ℝ, |
(b) | (0, 1) ∗ (0, 1) = (−1, 0). |
Zeigen Sie, dass ∗ die komplexe Multiplikation ist und also K = ℂ gilt.
Wir setzen nun voraus, dass der Begriff des Winkels für Vektoren der Ebene bekannt ist. Dann können wir definieren:
Definition (Argument einer komplexen Zahl)
Das Argument arg(z) einer komplexen Zahl z ≠ 0 ist der im Gegenuhrzeigersinn gemessene Winkel, den z mit der positiven x-Achse einschließt.
Definition (geometrische Multiplikation zweier Vektoren der Ebene)
Für alle z, w ∈ ℝ2 − { 0 } definieren wir z ∗ w als den eindeutigen Vektor der Ebene mit den folgenden Eigenschaften:
(a) | Die Länge von z ∗ w ist das Produkt der Längen von z und w. |
(b) | Das Argument von z ∗ w ist die Summe der Argumente von z und w. |
Weiter setzen wir z ∗ 0 = 0 ∗ z = 0 für alle z ∈ ℝ2.
Mit Hilfe unserer Charakterisierung der komplexen Multiplikation können wir nun zeigen:
Ergänzungsübung 2
(ℝ2, +, ∗) ist der Körper der komplexen Zahlen.
[ Es genügt zu zeigen, dass (ℝ2, +, ∗) ein Körper ist und dass (a) und (b) der Ergänzungsübung 1 gelten. ]
Damit haben wir die geometrische Multiplikationsregel bewiesen. Will man Winkel nicht von der Geometrie übernehmen, so wird der Beweis erst dann gültig, wenn Winkel analytisch eingeführt worden sind (vgl. Kapitel 3. 5).
Wir betrachten nun einige Anwendungen der Regel.
Ergänzungsübung 3
Interpretieren Sie (−1) · (−1) = 1 und allgemeiner (− z)2 = z2 mit Hilfe der Multiplikationsregel.
Ergänzungsübung 4
Finden Sie mit Hilfe der Multiplikationsregel
(a) | alle z ∈ ℂ mit z2 = i, |
(b) | alle z ∈ ℂ mit z2 = 1 + i. |
Schreiben Sie diese Zahlen in der Form x + i y.
Ergänzungsübung 5
Formulieren Sie in Analogie zur geometrischen Multiplikationsregel eine geometrische Divisionsregel für komplexe Zahlen.
Ergänzungsübung 6
Zeigen Sie durch geometrische Argumentation:
(a) | 2 Re(z) = z + z, 2 Im(z) = z − z, |
(b) | 1/z = z/|z|2 für alle z ∈ ℂ, z ≠ 0, |
(c) | (x z) · (y z) ∈ ℝ für alle z ∈ ℂ und alle x, y ∈ ℝ. |
Ergänzungsübung 7
Bestimmen Sie mit Hilfe der Multiplikationsregel die Lösungen der folgenden Gleichungen in ℂ, wobei k ∈ ℕ und w ∈ ℂ:
(a) zk = 1, (b) (z − w)k = 1, (c) zk = w.
Damit haben wir also die k-ten Einheitswurzeln und speziell die oben bestimmten dritten Einheitswurzeln ganz ohne Rechnung wiedergefunden.
Ergänzungsübung 8
(a) | Sei z ∈ ℂ mit |z| = 1. Beschreiben Sie die Potenzen zn und z−n für alle n ∈ ℕ. Unter welcher Voraussetzung an das Argument von z gibt es ein n ∈ ℤ − { 0 } mit zn = 1? |
(b) | Wir betrachten nun ein z ∈ ℂ mit |z| = 0,999 und „kleinem“ positiven Winkel φ. Wie sehen die Zahlen z1, z2, z3, … aus? Wie sehen sie aus, wenn |z| = 1,001? |
Schließlich betrachten wir noch:
Polarkoordinaten
Die nach Definition einer komplexen Zahl z gültige Darstellung z = (x, y) in kartesischen Koordinaten ist für die Addition sehr gut geeignet, für die Multiplikation ist dagegen die Darstellung einer komplexen Zahl z in Polarkoordinaten
(r, φ) = (|z|, arg(z))
unschlagbar. Denn sind zwei komplexe Zahlen z1 und z2 so dargestellt, so hat ihr Produkt z1 z2 nach der Multiplikationsregel die Polarkoordinaten
(r1 r2, φ1 + φ2).
Sind (r, φ) Polarkoordinaten von z, so sind (rn, nφ) Polarkoordinaten von zn. Weiter liefern die Polarkoordinaten (, φ/2) eine zweite und die Polarkoordinaten (3, φ/3) eine dritte komplexe Wurzel von z. Allgemein lässt sich das Wurzelziehen in ℂ in dieser Weise elegant auf das reelle Wurzelziehen und rationale Rechnen mit Winkeln zurückführen.
Ergänzungsübung 9
Zeichnen Sie ein den Polarkoordinaten entsprechendes Koordinatengitter in der Ebene.
An Polarkoordinaten kann man sich so gewöhnen, dass man irgendwann auch in φ-Strahlen und r-Kreisen um den Nullpunkt denkt und nicht mehr nur in x-Senkrechten und y-Waagrechten. Und dann möchte man neben z = (x, y) vielleicht auch einfach z = (r, φ) schreiben. Aus mathematischer Sicht ist (r, φ) aber nur ein „Kode“ für z = (x, y). Kennt man die trigonometrischen Funktionen, so kann man (x, y) und (r, φ) ineinander umrechnen, sodass
(r, φ) = Ψ(x, y) = Ψ(z) und z = (x, y) = Φ(r, φ)
für gewisse Funktionen Ψ und Φ gilt. Wir werden im dritten Abschnitt und auch im zweiten Band darauf zurückkommen. Prinzipiell genügt Schulwissen, um diese Umrechnungen durchführen zu können:
Ergänzungsübung 10
Definieren Sie Φ und Ψ mit Hilfe der Ihnen aus der Schule bekannten trigonometrischen Funktionen (und Umkehrfunktionen). Welche Definitions- und welche Wertebereiche haben Ihre Funktionen?