Vorwort
Die Analysis gehört zu den erfolgreichsten, fruchtbarsten, geheimnisvollsten, mutigsten, stolzesten, ältesten und anwendungsreichsten Theorien der Mathematik. In ihrem Zentrum steht der Grenzwertbegriff. Es herrscht dort nicht nur beliebige, sondern vollkommene Genauigkeit. Wir können Grenzübergänge durchführen, und die Grenzwerte, die wir durch Grenzübergänge erhalten, sind mathematische Objekte, mit denen wir rechnen, argumentieren und neue Begriffe bilden können. Und am Ende können wir alles wieder zurückholen in die endliche Welt und dort die relativ wenigen idealen Objekte, die uns letztendlich interessieren, beliebig genau approximieren. Der Umweg ins Reich des Ideellen ist auch für den in erster Linie „praktisch“ oder „realitätsnah“ denkenden Mathematiker unerlässlich. Er würde sich andernfalls in eine Schlacht mit wilden Abschätzungen und Ungleichungen stürzen, die er kaum gewinnen könnte. Er würde wenig sehen, während die höhere Warte einen klaren Blick genießt. Und für den ideell denkenden Mathematiker besitzt das Grenzwertreich der Analysis eine eigene Existenz, und die Entdeckung dieser Gefilde des Unendlichen ist sein schönstes Ziel. Unter dem Dach der Analysis können daher auch verschiedene philosophische Positionen friedlich nebeneinander existieren und sich gegenseitig befruchten.
Den Kern der elementaren Analysis bildet die von Leibniz und Newton entwickelte Differential- und Integralrechnung, die sich grob gesprochen als die Analyse des lokalen Verhaltens einer ein- oder mehrdimensionalen reellen Funktion bzw. als unendlich feine Summation von Funktionswerten beschreiben lässt. Die Verzweigungen der Analysis sind dann vielfältig und besitzen klingende Namen wie Funktionalanalysis, Funktionentheorie, partielle Differentialgleichungen, Variationsrechnung und andere mehr. Die fundamentale Stellung des Gebiets ist durch die kaum zu überschätzende Bedeutung für die wissenschaftliche Naturbeschreibung wohl zeitlos gesichert. Jeder Physiker und jeder Ingenieur braucht, je nach Arbeitsfeld, ein Basis- oder Spezialwissen der Analysis. Auch in die Schulmathematik ist die Analysis, verglichen mit anderen mathematischen Theorien, weit eingedrungen. Für die Universität bietet sich dadurch die Gelegenheit, Schulwissen aufzugreifen, zu erweitern und zu verändern. Der Analysis kommt damit auch eine Schlüsselrolle an der Schnittstelle zwischen Schule und Universität zu.
Das Buch will sich weder dem „axiomatisch-deduktiven“ noch dem „historisch-genetischen“ oder dem „psychologisch-genetischen“ Lager zuordnen lassen. Euklid und ein Großteil der heutigen Vorlesungen haben Recht, die beweisende Natur der Mathematik als selbstverständlich zu setzen. Und Beweise und weiter die Darstellung eines komplexeren mathematischen Gebäudes sind ohne formale Definitionen und ohne Systematik unmöglich. Damit ist ein gewisser, wenn auch sehr weitgefasster Rahmen vorgegeben. Felix Klein, der den historisch-genetischen Ansatz prägte, hat Recht, an das geschichtliche Werden der mathematischen Begriffe zu erinnern, das uns eine neue Dimension des Verständnisses eröffnen kann. Otto Toeplitz, der den Kleinschen Ansatz aufgriff, hat Recht, dass die Irrfahrten der Geschichte nicht in jedem Fall individuell nachvollzogen werden müssen und dass der Lehrer auch als Vermittler auftreten kann, der den historischen Kern der mathematischen Begriffe kennt und daraus Schlussfolgerungen für die Lehre zieht, die dann auch frei von Historie sein kann. Und Martin Wagenschein, der der genetischen Methode eine psychologische Variante hinzufügte, hat Recht, das Werden von Wissen, Verständnis und geistigen Kräften im Individuum zu betonen, da jede Form der Lehre geistige Prozesse in Gang setzt.
Wenn alle Recht haben, wird man einem folgen, oder man wird auswählen, kombinieren, nacheinander vorbringen, Neues hinzufügen, und so das Bild weiter ergänzen. Damit tritt, wie schon immer, die individuelle Qualität der Lehre in den Vordergrund. Sie lässt sich daran messen, ob sie das erreicht, was sie erreichen will, und danach auswählen, ob das, was sie erreicht, erreicht werden soll. Da das zu Erreichende in der Mathematik vielgestaltig ist, gibt es mehrere gute Antworten auf die Frage, wie Mathematik zu lehren sei. Der Autor ist von mathematischen Axiomen, Deduktionen, historischen Entwicklungen und psychologischen Verständnis- und Entwicklungsprozessen gleichermaßen fasziniert, aber keine der Lehrphilosophien scheint ihm alle guten mathematischen Lehrbücher einzufangen. Gute Lehrbücher können deduktiv bestechend oder genetisch fesselnd, psychologisch ignorant oder feinfühlig, historisch durchdrungen oder den Stand der Dinge widerspiegelnd sein. Die mathematischen Texte, die dem Autor als nachahmenswerte Vorbilder dienen, sind in diesen Eigenschaften ganz verschieden, aber sie sind allesamt didaktisch ambitioniert und individuell gefärbt. Seine eigenen Texte sind gerade im Hinblick auf historische und genetische Aspekte unterschiedlich, versuchen aber den folgenden Idealen gerecht zu werden:
− mathematische Präzision und Genauigkeit,
− exakte Verwendung der mathematischen Sprache,
− Lesbarkeit und ansprechende Darstellung,
− anspruchsvolles Niveau,
− Anregung des Lesers zu Eigenarbeit und ergänzender Lektüre,
− logisch-systematischer Aufbau,
− straff formulierte Beweise mit einprägsamer Struktur.
Anknüpfend an in der Schule oder an der Universität erworbenes Wissen über reelle Zahlen, Grenzwerte, elementare Funktionen und Differentialquotienten besprechen wir reelle Zahlen, Grenzwerte, elementare Funktionen und Differentialquotienten in der Art und Weise, wie sie in der Mathematik heute erscheinen. Wir wollen zeigen, wie man sich in der historisch gewachsenen, zum Teil schon recht vertrauten Welt der Analysis bewegen und zurechtfinden kann. Die Geschichte dieser Welt tritt dabei ebenso in den Hintergrund wie ihr mengentheoretisch-axiomatisches Fundament, und Gleiches gilt für die naturwissenschaftlich-technischen Anwendungen. Alle diese Aspekte sind wichtig. Hier geht es aber darum, wie und in welcher Sprache sich bereits bekannte oder neue, aber zumeist noch der Anschauung leicht zugängliche Begriffe exakt fassen lassen, wie sich ihre systematische Untersuchung darstellt, wie sie in Sätzen erscheinen, wie sie in Beweisen verwendet werden und wie das Wechselspiel zwischen Anschauung und formaler Fassung helfen kann, sie zu beherrschen. Themen mit hohem Bezug zur Mathematik an der Schule werden dabei besonders ausführlich behandelt, etwa irrationale Zahlen, Lösen quadratischer Gleichungen, Dezimaldarstellungen, Exponentialfunktionen, Logarithmen, trigonometrische Funktionen, Differentiationsregeln, lokale Extremwerte, Krümmung und das Newton-Verfahren.
München, im März 2021
Oliver Deiser