Motivationen
Der Integralbegriff lässt sich auf vielerlei Arten motivieren:
(1) | Flächenmessung: Welchen Inhalt hat die von der Parabel f (x) = x2 und der x-Achse im Intervall [ 0, 1 ] eingeschlossene Fläche? Welchen Inhalt hat die von cos(x) und der x-Achse im Intervall [ 0, 2 ] eingeschlossene Fläche, wenn die Fläche unterhalb der x-Achse negativ zählt? Welchen Inhalt haben Teilmengen der Ebene wie Kreise, Ellipsen, Kleeblätter? |
(2) | Auffinden von Stammfunktionen: Wann und wie findet man, gegeben f, eine Stammfunktion von f, d. h. eine Funktion F mit F′ = f? |
(3) | Mittelwertbildung: Welchen mittleren Wert besitzt eine auf [ a, b ] definierte Funktion f? |
(4) | Physikalische Fragen: Welchen Weg legt ein Körper zurück, der sich zur Zeit t ∈ [ a, b ] mit der Geschwindigkeit v(t) bewegt? Welche Energie verbraucht ein elektrisches Gerät, das zur Zeit t ∈ [ a, b ] die momentane Leistung p(t) besitzt? |
Im Folgenden lassen wir uns von der geometrischen Motivation der signierten, d. h. vorzeichenbehafteten Messung einer durch eine Funktion gegebenen Fläche leiten. Auf die Frage der Messung der Fläche einer beliebigen Teilmenge der Ebene gehen wir im Verlauf der Darstellung ein. Das Problem des Auffindens von Stammfunktionen wird das dritte Kapitel dominieren, und erst dann, wenn wir die Integration als Umkehrung der Differentiation erkannt haben, werden wir viele Integrale ohne Mühe berechnen können. Die Etappen des vor uns liegenden Weges sind also:
− geometrisch motivierte Konstruktion des Integrals
− Untersuchung seiner elementaren Eigenschaften
− Klärung des Zusammenhangs zwischen Integration und Differentiation
− Etablierung eines Kalküls der Integration
Die obigen Motivationen (3) und (4) spielen zunächst nur eine Nebenrolle, was ihr Gewicht nicht schmälert. Die auf den ersten Blick vielleicht etwas unscheinbare Mittelwertbildung (3) ist speziell für die Wahrscheinlichkeitstheorie von großer Bedeutung. Der Erwartungswert einer Zufallsvariablen, also ihr „mit Wahrscheinlichkeiten gewichteter“ Mittelwert, wird dort mit Hilfe von Integralen definiert und untersucht. Weiter sind die in Punkt (4) angesprochenen physikalischen und naturwissenschaftlich-technischen Anwendungen der Integrationstheorie kaum zu überblicken, und seit der Erfindung der Differential- und Integralrechnung bestehen enge Wechselwirkungen zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften. Der Mathematik kommt die Aufgabe zu, die Theorie zu etablieren, um sie in präziser, allgemeiner und abgesicherter Form den anderen Wissenschaften zur Verfügung stellen zu können.