Die verschiedenen Integrationsbegriffe

 Wir werden im Verlauf der Darstellung das Riemann-Integral, das Darboux-Integral und das Regelintegral kennenlernen, und auch von einem Lebesgue-Integral wird die Rede sein. Der Leser wird sich nun vielleicht fragen:

Gibt es denn verschiedene Integrale?

Ist das Integral einer Funktion f : [ a, b ]   etwa mehrdeutig?

Die Anwort auf die erste Frage ist: Ja, es gibt verschiedene Integrationsbegriffe! Die Antwort auf die zweite Frage ist: Nein, das Integral einer Funktion − eine reelle Zahl − ist für jeden Integrationsbegriff gleich, wenn es denn definiert ist. Es gilt:

Die verschiedenen Integrationsbegriffe unterscheiden sich nur

durch die Menge der integrierbaren Funktionen.

Das Integral der Sinus-Funktion auf [ 0, 1 ] ist also für jedes Integral, das diese Funktion integrieren kann, 1 − cos(1) = 0,4596…, und nicht etwa 0,4453… für ein „A-Integral“ und 0,4623… für ein „B-Integral“. Es kann aber sein, dass eine Funktion f auf [ 0, 1 ] zu kompliziert für das A-Integral ist, während sie mit dem B-Integral integriert werden kann. Ein Beispiel hierzu: Ein sehr einfaches Integral können wir erklären, indem wir das Integral einer konstanten Funktion f auf [ 0, 1 ] mit f (x) = c für alle x als c definieren. Dieses Integral kann den Sinus auf [ 0, 1 ] nicht integrieren, stimmt aber auf seinem Definitionsbereich − den konstanten Funktionen auf [ 0, 1 ] − mit allen umfassenderen Integralen wie dem Regel- oder Riemann-Integral überein.

 Mathematiker möchten naturgemäß gerne möglichst viele Funktionen integrieren können und ein Integral mit bestmöglichen Eigenschaften zur Verfügung haben. Im Gegensatz zur Ableitung f ′, die recht schnell definiert ist, ist die Einführung eines leistungsfähigen Integrals komplizierter und der Aufwand steigt mit der Menge der Funktionen, die erfasst werden sollen. Da man dem Anfänger nicht von Beginn an das sehr allgemeine, aber nicht leicht zu konstruierende Lebesgue-Integral zumuten möchte, begnügt man sich zunächst mit dem Riemann- bzw. Darboux-Integral, oder sogar mit dem noch etwas spezielleren Regelintegral. Diese Integrale sind nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Mathematik der Schule besonders wichtig, und die Erfahrungen, die man mit ihnen sammelt, sind auch in der Lebesgueschen Integrationstheorie wertvoll. Die Schwächen dieser Integrale lassen sich zudem zur Motivation und Bewertung eines allgemeineren Integrals verwenden.

 Wir stellen im Folgenden das Riemann-Integral in den Mittelpunkt. Es kann etwas mehr Funktionen integrieren als unbedingt nötig, aber auch weniger als möglich. Das Regelintegral fällt bei der Untersuchung des Riemann-Integrals in natürlicher Weise mit ab, und wir lernen so ein instruktives Beispiel für eine alternative und nicht äquivalente Konstruktion eines Integrals kennen. Beide Integrale sind attraktiv und anschaulich. Viele Motive tauchen auf, die später wiederkehren werden, um erweitert und variiert zu werden.

 Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir nun ein ebenso einfaches wie wichtiges technisches Hilfsmittel einführen, das uns zusammen mit einer Grenzwertbildung überraschend schnell an unser erstes Ziel − der Definition des Riemann-Integrals − bringen wird: