Der Jordan-Inhalt
Eine anschauliche Methode der näherungsweisen Flächenmessung ist uns seit Schultagen vertraut: Wir messen die betrachtete Fläche mit kleinen Quadraten. Je feiner unser „Millimeterpapier“ ist, desto genauer wird die Messung. Wir definieren hierzu :
Definition (δ-Quadrat)
Sei δ > 0. Ein Q ⊆ ℝ2 heißt ein δ-Quadrat, falls a, b ∈ ℤ existieren mit
Q = [ aδ, (a + 1)δ ] × [ bδ, (b + 1)δ ].
Ein δ-Quadrat ist also ein „Kästchen“ des Gitters der Feinheit δ, das wir, ausgerichtet an den beiden Achsen, über die Ebene ℝ2 legen. Es hat den elementaren Flächeninhalt
L([ aδ, (a + 1)δ ]) · L([ bδ, (b + 1)δ ]) = δ · δ = δ2.
Um den Flächeninhalt einer Menge P ⊆ ℝ2 zu approximieren, können wir für ein klein gewähltes δ zählen, wie viele δ-Quadrate in der Menge P enthalten sind oder zumindest gemeinsame Punkte mit ihr aufweisen. Dies liefert Approximationen von unten und von oben und einen Inhaltsbegriff durch einen entsprechenden Grenzübergang:
Definition (Jordan-Inhalt)
Sei P ⊆ ℝ2 beschränkt. Dann definieren wir den äußeren Jordan-Inhalt J(P) und den inneren Jordan-Inhalt j(P) durch
J(P) = infδ > 0 | (δ2 · „die Anzahl der δ-Quadrate Q mit Q ∩ P ≠ ∅“), |
j(P) = supδ > 0 | (δ2 · „die Anzahl der δ-Quadrate Q mit Q ⊆ P“). |
Gilt J(P) = j(P), so heißt P Jordan-messbar und die reelle Zahl J(P) = j(P) der Jordan-Inhalt von P.
Illustration des Jordan-Inhalts für einen Kreis und für eine kompliziertere Teilmenge der Ebene, die für die eindimensionale Integration nicht mehr direkt zugänglich ist. Die dunkelgrauen δ-Quadrate rechts oben werden bei der durch die Maschenweite δ bestimmten äußeren Messung des Jordan-Inhalts von P gezählt, die δ-Quadrate links unten dagegen bei der inneren und bei der äußeren Messung.
Wir stellen einige Eigenschaften des Jordan-Inhalts zusammen. Nach Konstruktion gilt für alle beschränkten P, Q ⊆ ℝ2:
0 ≤ j(P) ≤ J(P) (Ordnung)
P ⊆ Q impliziert j(P) ≤ j(Q) und J(P) ≤ J(Q) (Monotonie)
Man kann weiter zeigen, dass der Jordan-Inhalt additiv ist:
Sind P und Q Jordan-messbar und disjunkt, so ist
P ∪ Q Jordan-messbar und J(P ∪ Q) = J(P) + J(Q). (Additivität)
Induktiv ergibt sich hieraus, dass der Jordan-Inhalt von endlich vielen paarweise disjunkten messbaren Mengen die Summe der Jordan-Inhalte der Mengen ist (endliche Additivität).
Es existieren wieder viele gleichwertige Varianten der Konstruktion. Man kann zur Flächenmessung auch Quadrate eines Gitters zulassen, das nicht notwendig an der x-Achse und der y-Achse ausgerichtet ist. Auch die Messung mit Rechtecken und weiter sogar mit Polygonen führt zum selben Inhaltsbegriff. Die Messung mit Polygonen ist als Peano-Inhalt bekannt, weshalb die Konstruktion in der Literatur oft auch Peano-Jordan-Inhalt genannt wird. Allen Ansätzen ist gemeinsam, dass nur endlich viele elementare geometrische Figuren zu einer approximativen Messung verwendet werden.
Die Konstruktion des Jordan-Inhalts kann analog für beschränkte Teilmengen des ℝn mit einer Dimension n ≥ 1 durchgeführt werden. Für n = 3 werden zum Beispiel δ-Kuben mit dem elementaren Volumen δ3 verwendet.
Zwischen dem Riemann-Integral und dem Jordan-Inhalt besteht ein sehr enger Zusammenhang, den wir hier ohne Beweis angeben:
Satz (maßtheoretische Interpretation des Riemann-Integrals)
Sei f : [ a, b ] → [ 0, ∞ [ eine beschränkte Funktion, und sei
P = { (x, y) ∈ ℝ2 | a ≤ x ≤ b, 0 ≤ y ≤ f (x) }
die von f und der x-Achse eingeschlossene Teilmenge der Ebene. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent :
(a) | f ist Riemann-integrierbar. |
(b) | P ist Jordan-messbar. |
In diesem Fall gilt dann I(f) = J(P).
Das Riemann-Integral ist aus maßtheoretischer Sicht also nichts anderes als die Idealisierung der Millimeterpapier-Methode des „Kästchenzählens“. Das Riemann-Integral einer Funktion f, die auch negative Werte annimmt, erhalten wir, indem wir die durch f definierten Flächen
P1 = { (x, y) ∈ ℝ2 | a ≤ x ≤ b, f (x) > 0, 0 ≤ y ≤ f (x) }
P2 = { (x, y) ∈ ℝ2 | a ≤ x ≤ b, f (x) < 0, f (x) ≤ y ≤ 0 }
oberhalb bzw. unterhalb der x-Achse getrennt messen (die Menge aller (x, 0) mit f (x) = 0 könnten wir P1 oder P2 zurechnen, wir können sie aber auch vernachlässigen, da sie als Teilmenge der x-Achse keinen Flächeninhalt besitzt). Es gilt dann
I(f) = J(P1) − J(P2).
Dass Riemann-Integral und Jordan-Inhalt eng zusammenhängen, ist kaum überraschend: Das Riemann-Integral misst Flächen mit feinen rechteckigen Streifen, der Jordan-Inhalt misst Flächen mit kleinen Quadraten. Da sich Rechtecke mit Hilfe von Quadraten approximativ messen lassen und da Türme aus Quadraten Rechtecke sind, sollten keine großen Unterschiede auftreten. Das ist richtig, aber dass das Riemann-Integral genau dem Jordan-Inhalt entspricht, ist doch bemerkenswert. Wir werden im nächsten Kapitel das Regel-Integral einführen, das sich vom Riemann-Integral durch eine kleinere Menge integrierbarer Funktionen unterscheidet. Prinzipiell wäre eine derartige Abweichung auch für das Riemann-Integral und den Jordan-Inhalt denkbar.
Zusammenfassend gilt also: Mit dem Jordan-Inhalt kann man das Riemann-Integral definieren und mit dem zweidimensionalen Riemann-Integral den Jordan-Inhalt. Das Riemann-Integral ist im Gegensatz zum Jordan-Inhalt durch einen leistungsfähigen und eleganten Kalkül ausgezeichnet. Wir werden diesen Kalkül in den folgenden Kapiteln kennenlernen. Der Jordan-Inhalt besticht dagegen durch seine direkte Umsetzung der Problemstellung des Messens. Beide Ansätze spielen in der Mathematik eine wichtige Rolle.