Regelfunktionen und Regelintegral

 Unsere Untersuchungen motivieren die folgende Definition:

Definition (Regelfunktion)

Eine Funktion f : [ a, b ]   heißt eine Regelfunktion, falls f gleichmäßig durch Treppenfunktionen approximierbar ist.

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„f ist eine Regelfunktion“ heißt: In jedem ε-Schlauch um f liegt eine Treppenfunktion

 Wir haben im Verlauf unserer Untersuchungen bereits gezeigt: (1) Jede Regelfunktion ist integrierbar (und ihr Integral ist der Limes von approximierenden Treppenfunktionen). (2) Jede stückweise stetige oder monotone Funktion ist eine Regelfunktion. Weiter gilt die folgende sympathische und nicht schwer zu beweisende Charakterisierung:

Satz (Charakterisierung der Regelfunktionen)

Sei f : [ a, b ]   eine Funktion. Dann sind äquivalent:

(a)

f ist eine Regelfunktion.

(b)

f besitzt links- und rechtsseitige Grenzwerte, d. h.:

lim p f (x) und lim p f (x) existieren für alle p  ∈  ] a, b [,

lim a f (x) und lim b f (x) existieren.

 Die Aussage (b) trifft auf die stückweise stetigen und die monotonen Funktionen zu, sodass der Satz die Integrierbarkeit dieser Funktionen umfasst. Die Regelfunktionen bilden wieder einen Unterraum des Vektorraums aller Funktionen auf [ a, b ]. Damit ist auch jede bv-Funktion eine Regelfunktion, da sie als Differenz zweier monotoner Funktionen eine Linearkombination von Regelfunktionen ist.

 Nicht jede integrierbare Funktion ist eine Regelfunktion: Ist f die uns schon bekannte Zackenfunktion auf [ 0, 1 ] des folgenden Diagramms, so ist f Riemann-integrierbar, aber nicht regelintegrierbar.

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Die Zackenfunktion f definiert eine aus unendlich vielen Dreiecken zusammengesetzte Fläche, ist aber nicht regelintegrierbar

 Bereits eine einzige Unstetigkeitsstelle kann also das Regelintegral überfordern. Dennoch gilt, dass die Menge der Regelfunktionen recht umfassend ist, und deswegen wird zuweilen das Integral lediglich für Regelfunktionen erklärt. Dies geschieht für ein gegebenes Intervall [ a, b ] in zwei Schritten:

Konstruktion des Regelintegrals

1. Schritt:  Regelintegral für Treppenfunktionen

Sei g = k ≤ n ck 1Ik mit Intervallen Ik ⊆ [ a, b ]. Dann setzen wir:

R(g)  =  k ≤ n ck L(Ik),  wobei wieder L(Ik) = sup(Ik) − inf (Ik).

2. Schritt: Ausdehnung auf alle Regelfunktionen

Sei f eine Regelfunktion auf [ a, b ], und seien (gn)n  ∈   Treppenfunktionen auf [ a, b ], die gleichmäßig gegen f konvergieren. Dann setzen wir

R(f)  =  limn R(gn).

Die reelle Zahl R(f) heißt das Regelintegral von f.

 Zu zeigen ist in beiden Schritten die Wohldefiniertheit von R(f): Wir müssen zeigen, dass R(f) nicht von der Wahl der Intervalle Ik und auch nicht von der Wahl der Folge (gn)n  ∈   abhängt. Abgesehen von dieser technischen Hürde besticht die Definition durch ihre Übersichtlichkeit. Das elementare Integral für Treppenfunktionen wird durch einen sehr klaren Grenzübergang erweitert.

 Zusammenfassend halten wir fest:

Für alle Regelfunktionen gilt R(f) = I(f).

Es gibt Funktionen f, für die I(f) definiert, aber R(f) nicht definiert ist.

 Damit haben wir ein Beispiel für zwei nicht äquivalente Integralbegriffe kennengelernt. Der Unterschied ist recht subtil. Eine Riemann-integrierbare Funktion f lässt sich durch Treppenfunktionen g so gut approximieren, dass

|I(f)  −  I(g)|

beliebig klein wird, aber sie lässt sich im Allgemeinen nicht gleichmäßig (und auch nicht punktweise) durch Treppenfunktionen approximieren. Die Aussage, dass sich eine integrierbare Funktion „beliebig gut“ durch eine Treppenfunktion approximieren lässt, ist also mit Vorsicht zu genießen. Erst die Definition zeigt, was „beliebig gut“ bedeutet.

 Zur Kürze der obigen Definition bemerken wir, dass die Riemann-Integrierbarkeit, speziell in Form der Darbouxschen Integrierbarkeitsbedingung, letztendlich auch nicht komplizierter ist. Sie kommt zudem ohne „ε-Schläuche“ und gleichmäßige Konvergenz aus, die in der Schule nicht behandelt werden. Mathematisch ist die Äquivalenz zum Jordan-Inhalt von Bedeutung, die das Riemann-Integral vor dem Regelintegral auszeichnet. Auch aus historischer Sicht ist das Riemann-Integral unverzichtbar. Das Lebesgue-Integral wurde um 1900 auf der Basis des Riemann-Integrals entwickelt, das Regelintegral wurde dagegen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeführt. Die Eleganz der gleichmäßigen Approximation durch Treppenfunktionen ist andererseits nicht zu bestreiten. Weiter ist das Konzept der Approximation durch einfache Funktionen ein zentrales Motiv der allgemeinen maßtheoretischen Integrationstheorie. Es ist also gut, beide Integrale von Anfang an zu kennen. Im Folgenden bedeutet „integrierbar“ wie bisher „Riemann-integrierbar“, d. h., wir arbeiten mit dem etwas umfassenderen Begriff. Auf den Komfort des Regelintegrals müssen wir dabei, wie in den Beweisen der Integrierbarkeit der stetigen und der monotonen Funktionen, nicht verzichten.