Die Eulersche Gamma-Funktion

 Wir beginnen mit einem einfachen uneigentlichen Integral:

0 e−t dt  =  limb  ∞ et0b  =  limb  ∞ eta0  =  limb  ∞ − e− b + 1  =  1.

Durch partielle Integration erhalten wir (in kompakter Notation):

0 t e−t dt  =  0  +  0 e−t dt  =  1,

0 t2 e−t dt  =  0  +  2 0 t e−t dt  =  2 · 1  =  2,

0 t3 e−t dt  =  0  +  3 0 t2 e−t dt  =  3 · 2  =  6.

Induktiv ergibt sich für alle n ≥ 1:

0 tn e−t dt  =  0  +  n 0 t n − 1 e−t dt  =  n · (n − 1)!  =  n!

Wir lassen nun im Exponenten allgemeiner reelle Zahlen zu und definieren:

Definition (Gamma-Funktion)

Die Eulersche Gamma-Funktion Γ : ] 0, ∞ [   ist definiert durch

Γ(x)  =  0tx − 1 e−t dt  für alle x > 0.

 Nach unserer Vorüberlegung gilt

Γ(n + 1)  =  0tn e−t dt  =  n!  für alle n  ∈  .

Traditionell wird Gamma-Funktion mit tx − 1 und nicht tx definiert. Im Integranden „kämpft“ die Potenz tx − 1 gegen die schnell abfallende Funktion e−t an. Ist t hinreichend groß, so ist tx + 1e−t ≤ 1 und damit tx − 1e−t ≤ t−2. Dies zeigt, dass

lim ∞b1tx − 1 e−t dt

existiert. Für alle x > 0 gilt zudem

lima  01atx − 1 dt  =  lima  0 txxt=at=1  =  lima  0 1  −  axx  =  1x.

Wegen e−t ≤ 1 für alle t ≥ 0 existiert also uneigentliche Integral in der Definition der Gamma-Funktion für alle x > 0.

 Durch unsere Motivation ist nicht mehr überraschend:

Satz (Funktionalgleichung der Gamma-Funktion)

Für alle x > 0 gilt Γ(x + 1) = x Γ(x). (Funktionalgleichung für Γ)

Beweis

Sei x > 0. Dann gilt mit partieller Integration:

Γ(x + 1)  =  lim 0, b batx e−t dt

 =  lim 0,  b  ∞(txett=at=b  +  bax tx − 1 e−t dt)

 =  0  −  0  +  x  0tx − 1 e−t dt  =  x Γ(x).

analysis2-AbbID322a

Γ(1)  =  0!  =  1  Γ(2)  =  1!  =  1

Γ(2)  =  2!  =  2  Γ(4)  =  3!  =  6

analysis2-AbbID322b

 Eine Anwendung der Substitutionsregel zeigt:

Satz (Logarithmus-Darstellung der Gamma-Funktion)

Für alle x > 0 gilt

Γ(x)  =  10 |log(u)|x − 1 du.

Beweis

Sei x > 0. Mit der Substitution t = s(u) = −log(u), s′(u) = −1/u, gilt

lim 0, b batx − 1 e−t dt  =  lim 0, b e−be−a− (− log(u))x − 1 uu du

 =  lim 0, b e−ae−b |log(u)|x − 1 du  =  10 |log(u)|x − 1 du.

analysis2-AbbID318a

x  =  1/2

f (t)  =  t−1/2 e−t

analysis2-AbbID318b

x  =  1

f (t)  =  e−t

analysis2-AbbID318c

x  =  2

f (t)  =  t e−t

analysis2-AbbID318d

x  =  4

f (t)  =  t3 e−t

analysis2-AbbID318e

x  =  6

f (t)  =  t5 e−t

analysis2-AbbID318f

x  =  8

f (t)  =  t7 e−t

Γ(x) ist der Inhalt der grauen unbeschränkten Flächen. Ist x  ∈  ] 0, 1 [, so

strebt f (t) gegen ∞, wenn t gegen 0 strebt. Für x > 1 zeigen sich „Buckel“.

analysis2-AbbID320a

x  =  1/2

f (t)  =  |log(t)|1/2 − 1

analysis2-AbbID320b

x  =  3/2

f (t)  =  |log(t)|3/2 − 1

Zur Logarithmus-Darstellung der Gamma-Funktion

 Dass sich Γ(x) wie 1/x verhält, wenn x gegen Null konvergiert, hatten wir oben schon bemerkt. Die Funktionalgleichung erlaubt einen einfachen Beweis:

limx  0 Γ(x)1/x  =  limx  0 x Γ(x)  =  limx  0 Γ(x + 1)  =  Γ(1)  =  1.

 Eine weitere wichtige Eigenschaft der Gamma-Funktion ist:

Satz (logarithmische Konvexität)

Die Funktion

log ∘ Γ : ] 0, ∞ [  

ist konvex.

analysis2-AbbID324

Der Beweis kann mit Hilfe der Hölderschen Ungleichung, die wir im zweiten Abschnitt kennenlernen werden, einfach geführt werden. Wir begnügen uns an dieser Stelle mit einer Visualisierung.

 Aus der logarithmischen Konvexität gewinnt man die (bereits Euler bekannte) Darstellung:

Satz (Gauß-Darstellung der Gamma-Funktion)

Für alle x > 0 gilt

Γ(x)  =  limnn! nxx (x + 1) … (x + n).

analysis2-AbbID326

Γ und einige Approximationen fn mit fn(x)  =  n! nxx (x + 1) … (x + n)  für alle x > 0

Beweis

Sei x > 0, und sei f = log ∘ Γ. Nach der Funktionalgleichung gilt

f(x + 1)  =  log(Γ(x + 1))  =  log(Γ(x) x)  =  log(Γ(x))  +  log(x)  =  f (x)  +  log(x)

und allgemeiner

(+n)  f(x + n + 1)  =  f (x)  +  log(x (x + 1) … (x + n))  für alle n.

Für alle p < q sei a(p, q) die Steigung der Sekante von log ∘ Γ bzgl. p und q.

Sei k  ∈   mit k ≥ x + 1. Weiter sei n  ∈  * beliebig. Da f konvex ist, gilt

a(n, n + 1)  ≤  a(n + 1, x + n + 1)  ≤  a(n + k, n + k + 1), 

d. h.

f(n + 1)  −  f (n)  ≤  f (x + n + 1)  −  f (n + 1)x  ≤  f(n + k + 1)  −  f(n + k).

Damit gilt

log(n)  ≤  f(x)+logx(x+1)(x+n)log(n!)x   ≤  log(n + k),

wobei wir links und rechts (+)1 sowie (+)n und f(n + 1) = log(Γ(n + 1)) = log(n!) in der Mitte anwenden. Umformung liefert

0  ≤  f (x)  +  log(x (x + 1) … (x + n))  −  log(n!)  −  x log(n)  ≤  x  log(1 + k/n).

Da dies für alle n gilt, folgt

limn |f (x)  −  log(n! nxx (x + 1) … (x + n))|  ≤  limn x log(1 + k/n)  =  0.

Aus f = log ∘ Γ und der Stetigkeit von exp = log−1 folgt die Behauptung.

 Im Beweis haben wir die Integraldefinition gar nicht verwendet, sondern nur einige Eigenschaften von Γ. Wir erhalten:

Korollar (Charakterisierungssatz von Bohr-Mollerup)

Sei g : ] 0, ∞ [  ] 0, ∞ [ eine Funktion mit

(a)

g(1)  =  1,

(b)

g(x + 1)  =  x g(x)  für alle x > 0, (Funktionalgleichung)

(c)

log ∘ g : ] 0, ∞ [   ist konvex. (logarithmische Konvexität)

Dann gilt g = Γ.

Beweis

Obiger Beweis bleibt mit g statt Γ gültig, da wir dort nur (a) − (c) bzw. Folgerungen aus diesen Eigenschaften wie g(n + 1) = n! verwendet haben. Für g gilt also die Gauß-Darstellung und damit g = Γ.

 Dass auf (c) nicht verzichtet werden kann, zeigen Funktionen der Form h Γ, wobei h : ] 0, ∞ [  ] 0, ∞ [ eine beliebige Funktion der Periode 1 mit h(1) = 1 ist.

Fortsetzung der Gamma-Funktion

 Die Funktionalgleichung erlaubt eine Fortsetzung der Gamma-Funktion nach  − { 0, −1, −2, … }. Denn die Umformung

Γ(x)  =  Γ(x + 1)x

können wir zur Definition von Γ im Intervall ] −1, 0 [ dann zur Definition von Γ im Intervall ] −2, −1 [ usw. verwenden. Das folgende Diagramme zeigt die entstehende (wieder Γ genannte) Funktion Γ :  − { 0, −1, −2, … }  .

analysis2-AbbID328

 Alternativ können wir die Gauß-Darstellung zur Definition von Γ(x) für alle x verwenden, die keine negativen ganzen Zahlen sind.

analysis2-AbbID330

Γ und die Approximation f4 der Gauß-Darstellung wie im Diagramm oben

Der Wert der Gamma-Funktion an der Stelle 1/2

 Der Wert von Γ an der Stelle 1/2 hängt eng mit dem Wert des Gauß-Integrals zusammen. Kennt man einen der beiden Werte, so kennt man auch den anderen. Denn mit der Substitution

analysis2-AbbID333a

e − x2/2

analysis2-AbbID333b

22 |t|−1/2 e−|t|

x  =  s(t)  =  2t, 

s′(t)  =  12t  =  22  t−1/2

erhalten wir:

−∞ e−x2/2 dx  =  2  lim 0,  b  ∞ba e− x2/2 dx

 =  lim 0,  b  ∞2b2/2a2/2 t−1/2 e−t dt

 =  2  Γ(1/2).

Damit gilt also

Γ(1/2)  =  π.

Aus der Funktionalgleichung ergeben sich weitere Werte:

Γ(3/2)  =  π2,  Γ(5/2)  =  34 π,  Γ(7/2)  =  158 π.

Der Wert von Γ an der Stelle 1/2 fließt auch aus einer weiteren bemerkenswerten Formel, die wir ohne Beweis angeben:

Satz (Eulerscher Ergänzungssatz)

Für alle x  ∈   −  gilt

Γ(x) Γ(1 − x)  =  πsin(πx) .

Speziell gilt Γ(1/2)  =  π.

 Die Gamma-Funktion erlaubt eine Fortsetzung ins Komplexe, sodass Γ(z) für alle z  ∈   − { 0, −1, −2, … } definiert ist. Das genauere Studium dieser faszinierenden Funktion ist eine Aufgabe der Funktionentheorie.