Gδ-, Fσ-Mengen und Bairescher Kategoriensatz
Die offenen und abgeschlossenen Mengen bilden zwei Typen von Teilmengen von ℝ. Bereits die einfachen halboffenen Intervalle der Form ] a, b ] und [ a, b [ gehören nicht zu diesen Typen. Gleiches gilt für die Menge ℚ. Die nächste Komplexitätsstufe für Mengen reeller Zahlen erhalten wir durch die Bildung von abzählbaren Vereinigungen und Durchschnitten:
Definition (Gδ- und Fσ-Mengen)
Ein P ⊆ ℝ heißt eine Gδ-Menge, falls offene Un, n ∈ ℕ, existieren mit
P = ⋂n Un.
Analog heißt ein P ⊆ ℝ eine Fσ-Menge, falls abgeschlossene An, n ∈ ℕ, existieren mit
P = ⋃n An.
Das kleine „δ“ erinnert an „Durchschnitt“ und das kleine „σ“ an „Summe“. „G“ steht für „Gebiet“, eine traditionelle deutschsprachige Bezeichnung für (nichtleere) offene Mengen. Schließlich steht „F“ für franz. „fermé“, abgeschlossen. Die Bezeichnung stammen von Felix Hausdorff.
Alle halboffenen Intervalle ] a, b ] und [ a, b [ sind sowohl Gδ-Mengen als auch Fσ-Mengen. Jede abzählbare Menge P = { pn | n ∈ ℕ } ist eine Fσ-Menge, da
P = ⋃n { pn }, mit abgeschlossenen Mengen { pn }.
Ebenso ist jedes P, dessen Komplement ℝ − P abzählbar ist, eine Gδ-Menge. Speziell ist ℚ eine Fσ-Menge und ℝ − ℚ eine Gδ-Menge.
Es gilt:
Satz (elementare Eigenschaften der Gδ- und Fσ-Mengen)
(a) | Jede offene und jede abgeschlossene Menge ist sowohl eine Gδ-Menge als auch eine Fσ-Menge. |
(b) | Ist P eine Gδ-Menge, so ist ℝ − P eine Fσ-Menge. Ist Q eine Fσ-Menge, so ist ℝ − Q eine Gδ-Menge. |
(c) | Sind Pn, n ∈ ℕ, Gδ-Mengen, so ist ⋂n Pn eine Gδ-Menge. Sind Qn, n ∈ ℕ, Fσ-Mengen, so ist ⋃n Qn eine Fσ-Menge. |
(d) | Sind P0, …, Pn Gδ-Mengen, so ist ⋃k ≤ n Pk eine Gδ-Menge. Sind Q0, …, Qn Fσ-Mengen, so ist ⋂k ≤ n Qk eine Fσ-Menge. |
Der Bairesche Kategoriensatz
Bislang ist nicht klar, ob die Gδ- und die Fσ-Mengen zusammenfallen. Dies ist aber nicht der Fall. Hierzu beweisen wir:
Satz (Bairescher Kategoriensatz)
Seien An, n ∈ ℕ, abgeschlossene Mengen, die keine Intervalle positiver Länge enthalten. Dann enthält auch ⋃n An kein Intervall positiver Länge.
Beweis
Sei [ a, b ] ein Intervall mit a < b. Wir konstruieren rekursiv Intervalle [ an, bn ] mit an < bn mit den Eigenschaften:
(a) | [ a, b ] ⊇ [ a0, b0 ] ⊇ [ a1, b1 ] ⊇ … ⊇ [ an, bn ] ⊇ …, |
(b) | [ an, bn ] ∩ An = ∅ für alle n. |
Derartige Intervalle existieren, denn ist [ an − 1, bn − 1 ] konstruiert für ein n ≥ 0 (mit der Festsetzung [ a−1, b−1 ] = [ a, b ]), so gibt es nach Voraussetzung ein xn ∈ ] an − 1, bn − 1 [ mit xn ∉ An. Dieses xn ist kein Häufungspunkt von An, da An abgeschlossen ist. Also ist [ xn − ε, xn + ε ] für ein hinreichend kleines ε > 0 disjunkt von An und damit ein Intervall [ an, bn ] wie gewünscht.
Nach dem Prinzip der Intervallschachtelung gibt es ein x* ∈ ⋂n [ an, bn ]. Dann ist x* ∈ [ a, b ], und nach (b) ist x* ∉ ⋃n An, da x* ∈ [ an, bn ] für alle n. Also ist [ a, b ] keine Teilmenge von ⋃n An.
Bevor wir den Baireschen Kategoriensatz anwenden, wollen wir ihn noch etwas umformulieren. Hierzu definieren wir:
Definition (nirgends dicht, irgendwo dicht, mager)
Ein P ⊆ ℝ heißt nirgends dicht, falls int(cl(P)) = ∅. Andernfalls heißt P irgendwo dicht. Ein M ⊆ ℝ heißt mager, falls es nirgends dichte Pn gibt mit M = ⋃n Pn.
Die Bedingung „int(cl(P)) = ∅“ besagt genau, dass der Abschluss von P kein Intervall positiver Länge enthält. Damit erhalten wir:
Satz (Bairescher Kategoriensatz, Umformulierung)
Eine magere Menge besitzt ein leeres Inneres. Insbesondere ist jedes Intervall positiver Länge nicht mager.
Beweis
Ist M = ⋃nPn mit nirgends dichten Pn, so ist M ⊆ ⋃n cl(Pn) und die Mengen An = cl(Pn) sind wie im Kategoriensatz.
Ist P nirgends dicht, so gilt dies auch für jede Teilmenge von P. Analoges gilt für die mageren Mengen. Weiter sind die nirgends dichten Mengen abgeschlossen unter endlichen Vereinigungen. Die mageren Mengen sind abgeschlossen unter abzählbaren Vereinigungen. Ein P ist genau dann nirgends dicht, wenn cl(P) nirgends dicht ist. Dagegen ist der Abschluss einer mageren Menge im allgemeinen nicht mager, denn eine magere Menge kann dicht sein: Durchläuft q0, q1, …, qn, … alle rationalen Zahlen und ist Pn = { qn } für alle n, so ist jedes Pn nirgends dicht, aber die magere Menge ⋃n Pn = ℚ ist dicht in ℝ.
Ist U offen und dicht, so ist Uc nirgends dicht. Hieraus erhält man:
Satz (Bairescher Kategoriensatz, duale Formulierung)
Ein abzählbarer Durchschnitt von offenen dichten Mengen ist dicht.
Beweis
Ist D = ⋂nUn mit offenen und dichten Un, so ist Dc = ⋃nUcn mit nirgends dichten Mengen Ucn. Also ist Dc mager. Nach dem Kategoriensatz ist int(Dc) = ∅ und damit ist D dicht.
Aus der dualen Formulierung folgt umgekehrt die erste Version: Denn ist M = ⋃nPn mager, so ist M ⊆ ⋃ncl(Mn). Also ist Mc ⊇ ⋂n cl(Pn)c dicht und damit int(M) = ∅.
Wir betrachten nun einige Anwendungen des Kategoriensatzes. Wir beginnen mit der oben aufgeworfenen Frage:
Verschiedenheit der Fσ- und Gδ-Mengen
Satz (Komplexität von ℚ und ℝ − ℚ)
Die Menge ℚ der rationalen Zahlen ist eine Fσ-Menge, aber keine Gδ-Menge. Ebenso ist die Menge ℝ − ℚ der irrationalen Zahlen eine Gδ-Menge, aber keine Fσ-Menge.
Beweis
Als abzählbare Menge ist ℚ eine Fσ-Menge, und damit ist ℝ − ℚ eine Gδ-Menge. Wir zeigen, dass ℝ − ℚ keine Fσ-Menge ist. Dann ist ℚ keine Gδ-Menge. Annahme, es gilt
ℝ − ℚ = ⋃n ∈ ℕ An
für abgeschlossene Mengen An. Da ℚ dicht in ℝ ist, ist jedes An nirgends dicht (sonst enthielte An = cl(An) ein Intervall positiver Länge und damit ein Element von ℚ). Folglich sind auch die Mengen
Bn = An ∪ { qn },
nirgends dicht, wobei q0, q1, …, qn, … eine Aufzählung aller rationalen Zahlen ist. Dann gilt aber
⋃n Bn = ⋃n (An ∪ { qn }) = ⋃n An ∪ ℚ = ℝ,
im Widerspruch zum Baireschen Kategoriensatz.
Es ist instruktiv, den Beweis mit der dualen Version des Kategoriensatzes zu wiederholen: Annahme, es gilt ℚ = ⋂n Un mit offenen Un. Dann ist jedes Un eine Obermengen von ℚ und damit dicht. Dann gilt aber ∅ = ⋂n (Un − { qn }) mit offenen dichten Mengen Un − { qn }, Widerspruch.
Allgemein zeigt das Argument, dass jede abzählbare dichte Teilmenge von ℝ eine Fσ-, aber keine Gδ-Menge ist.
Überabzählbarkeit echter Intervalle
Der Bairesche Kategoriensatz zeigt auf neue Art und Weise:
Satz (Überabzählbarkeit reeller Intervalle)
Seien a < b. Dann ist [ a, b ] überabzählbar.
Beweis
Da jede Einermenge { x } nirgends dicht ist, hat nach dem Baireschen Kategoriensatz jede abzählbare Menge ein leeres Inneres. Damit gilt [ a, b ] ≠ { xn | n ∈ ℕ } für jede Folge (xn)n ∈ ℕ in [ a, b ].
Strenge Monotonie des Integrals
Mit Hilfe des Kategoriensatzes können wir eine Frage beantworten, die sich unmittelbar nach der Einführung des Integrals gestellt hatte:
Satz (strenge Monotonie des Integrals)
Seien a < b und f, g : [ a, b ] → ℝ integrierbar mit f < g. Dann ist I(f) < I(g).
Beweis
Sei h = g − f. Dann ist h : [ a, b ] → ] 0, ∞ [. Wegen I(h) = I(g) − I(f) genügt es zu zeigen, dass I(h) > 0. Wir setzen hierzu
Mn = { x ∈ [ a, b ] | h(x) ≥ 1/n } für alle n ≥ 1.
Wegen ⋃n ≥ 1 Mn = [ a, b ] gibt es nach dem Baireschen Kategoriensatz ein n* ≥ 1 derart, dass Mn* irgendwo dicht ist. Seien also c < d in [ a, b ] mit
(+) [ c, d ] ⊆ cl(Mn*).
Sei h* = h|[ c, d ]. Dann gilt
I(h) ≥ I(h*) = S h* ≥ d − cn* > 0,
wobei wir (+) und die Definition des Oberintegrals bei der zweiten Abschätzung verwenden: Da Mn* dicht in [ c, d ] und h(x) ≥ 1/n* auf Mn* ist, ist jede Darbouxsche Obersumme Sp h* größergleich (d − c)/n*.
Topologische Begriffe (mit P ⊆ ℝ, p ∈ ℝ) | |
Uε(p) | { x ∈ ℝ | |x − p| < ε } |
P offen | ∀p ∈ P ∃ε > 0 Uε(p) ⊆ P |
P Umgebung von p | ∃ε > 0 Uε(p) ⊆ P ∃U ⊆ P (p ∈ U ∧ U offen) |
p Häufungspunkt von P | ∀ε > 0 ∃x ∈ P (x ≠ p ∧ x ∈ Uε(p)) |
p isolierter Punkt von P | ∃ε > 0 Uε(p) ∩ P = { p } |
P′ | { p ∈ ℝ | p Häufungspunkt von P } |
P dicht | ∀p ∈ ℝ ∀ε > 0 P ∩ Uε(p) ≠ ∅ P′ = ℝ |
P abgeschlossen | Pc ist offen P′ ⊆ P |
P perfekt | P′ = P |
P in sich dicht | P ⊆ P′ |
int(P) | { p ∈ ℝ | P ist Umgebung von p } |
cl(P) | P ∪ P′ |
p Randpunkt von P | ∀ε > 0 ∃x, y ∈ Uε(p) (x ∈ P ∧ y ∉ P) |
bd(P) | { p ∈ ℝ | p ist Randpunkt von P } cl(P) − int(P) |
P nirgends dicht | int(cl(P)) = ∅ |
P Gδ-Menge | P = ⋂n ∈ ℕ Un mit Un offen |
P Fσ-Menge | P = ⋃n ∈ ℕ An mit An abgeschlossen |
Beispiele | |
Uε(p) | U1(2) = ] 1, 3 [ |
P offen | ∅, ℝ, ] 0, 1 [, ] 0, 1 [ ∪ ] 2, ∞ [, ℝ − { 0 } |
P Umgebung von p | ] 0, 1 ] ist Umgebung von 1/2 und 1/10, aber keine Umgebung von 0 oder von 1 |
p Häufungspunkt von P | 0 ist Häufungspunkt von { 2−n | n ∈ ℕ } |
p isolierter Punkt von P | alle p ∈ { 2−n | n ∈ ℕ } sind isoliert |
P′ | (] 0, 1 ] ∪ { 2 })′ = [ 0, 1 ], ℚ′ = ℝ |
P dicht | ℚ, ℝ − ℚ, 𝔸, ℝ − ℤ, ℝ, ℝ − C mit der Cantor-Menge C |
P abgeschlossen | [ 0, 1 ], [ 0, 1 ] ∪ { 2 }, [ 0, 1 ] ∪ [ 2, ∞ [ ∅, { 1 }, { 1, 2 }, ℕ, ℤ, ℝ |
P perfekt | [ 0, 1 ], Cantor-Menge C, ℝ |
P in sich dicht | ∅, ℚ ∩ [ 0, 1 [, ℚ, ℝ − ℚ, ℝ |
int(P) | int(] 0, 1 ]) = ] 0, 1 [, int(ℚ) = int(ℝ − ℚ) = ∅ |
cl(P) | cl([ 0, 1 [) = cl([ 0, 1 ] − ℚ) = [ 0, 1 ] |
p Randpunkt von P | 0 und 1 sind Randpunkte von ] 0, 1 ] |
bd(P) | bd([ 0, 1 [) = bd({ 0, 1 }) = { 0, 1 } bd([ 0, 2 ] − { 1 }) = { 0, 1, 2 }, bd(ℚ) = ℝ |
P nirgends dicht | ∅, ℤ, { 2−n | n ∈ ℕ }, Cantor-Menge C |
P Gδ-Menge | ℝ − ℚ = ⋂n ∈ ℕ (ℝ − { qn }) |
P Fσ-Menge | ℚ = ⋃n ∈ ℕ { qn }, wobei ℚ = { qn | n ∈ ℕ } |