Die Urbildformulierung der Stetigkeit in allen Punkten

 Aus der eben gewonnenen punktweisen Erkenntnis erhalten wir eine besonders griffige Formulierung der Stetigkeit in allen Punkten:

Satz (Urbildformulierung der Stetigkeit)

Sei f : P  . Dann sind äquivalent:

(a)

f ist stetig.

(b)

Für alle offenen U ist f −1[ U ] offen in P.

Beweis

(a) impliziert (b):

Sei U ⊆  offen. Weiter sei p  ∈  f −1[ U ]. Dann ist U eine Umgebung von f (p). Aufgrund der Stetigkeit von f im Punkt p ist also f −1[ U ] eine Umgebung von p in P. Dies zeigt, dass die Menge f −1[ U ] eine Umgebung in P aller ihrer Punkte und damit offen in P ist.

(b) impliziert (a):

Sei p  ∈  P. Weiter sei U eine offene Umgebung von f (p). Nach Voraussetzung ist f −1[ U ] offen in X und damit eine Umgebung von p in X. Nach der Umgebungsformulierung ist also f stetig im Punkt p.

 Die Stetigkeit einer Funktion bedeutet also in Kurzfassung:

Die Urbilder offener Mengen sind offen.

Das „offen“ am Ende des Satzes ist dabei genauer als „offen relativ zum Definitionsbereich der Funktion“ zu verstehen. Anstelle offener Mengen kann man gleichwertig abgeschlossene Mengen betrachten, sodass man die Stetigkeit einer Funktion also auch durch

Die Urbilder abgeschlossener Mengen sind abgeschlossen.

zum Ausdruck bringen kann (Beweis als Übung). Auch hier kann „Urbild“ nicht durch „Bild“ ersetzt werden. Der Arkustangens liefert ein Beispiel: Er ist stetig, bildet aber die abgeschlossene Menge [ 0, ∞ [ auf die Menge [ 0, π/2 [ ab, die nicht abgeschlossen ist. Wir werden später jedoch zeigen, dass die Bilder abgeschlossener beschränkter Mengen unter einer stetigen Funktion wieder abgeschlossen und beschränkt sind.

Warnung

Der Urbild-Erhalt der Offenheit gilt im Algemeinen nicht mehr lokal:

Die Indikatorfunktion 1] −1, 1 ] :    ist zum Beispiel stetig im Punkt 0, aber für die offene Menge U = ] 1/2, 3/2 [ ist f −1[ U ] = ] −1, 1 ] nicht offen.

Ebenso ist f −1[ cl(U) ] = ] −1, 1 ] nicht abgeschlossen.

 Zur Illustration beweisen wir mit Hilfe der topologischen Charakterisierung zwei uns schon bekannte Sätze, nämlich den Satz über die Verknüpfung stetiger Funktionen und den Zwischenwertsatz für stetige Funktionen.

Satz (Verknüpfung stetiger Funktionen)

Seien f, g :    stetig. Dann ist auch h = g ∘ f stetig.

Beweis

Sei U ⊆  offen, und seien V = g−1[ U ], W = f −1[ V ]. Dann ist V aufgrund der Stetigkeit von g und weiter W aufgrund der Stetigkeit von f offen. Also ist h−1[ U ] = f −1[ g−1[ U ] ] = W offen.

 Der Leser beweise zur Übung eine Version dieses Satzes für stetige Funktionen f : P  , g : Q   mit f[ P ] ⊆ Q. Hier werden die Relativbegriffe verwendet. Eine punktweise Version erhält man durch Betrachtung von Umgebungen.

 In unserem zweiten Beispiel wird die Eleganz und Stärke der topologischen Argumentation besonders deutlich. Die Tatsache, dass ∅ und  die einzigen Mengen in  sind, die sowohl offen als auch abgeschlossen sind, bildet das Herz des Arguments.

Satz (Zwischenwertsatz für stetige Funktionen)

Sei f :    stetig, und seien a < b. Dann nimmt f jeden Wert c zwischen f (a) und f (b) an.

Beweis

Annahme, c liegt nicht im Wertebereich von f. Wir setzen:

U1  =  ] −∞, c [,  U2  =  ] c, ∞ [,  V1  =  f − 1[ U1 ],  V2  =  f −1[ U2 ].

Aufgrund der Stetigkeit von f sind V1 und V2 offen. Weiter sind V1 und V2 disjunkt und nichtleer. Nach Annahme gilt  = V1 ∪ V2. Aber  ist keine Vereinigung zweier disjunkter offener nichtleerer Mengen, da sonst beide Mengen nichtleer und zugleich offen und abgeschlossen wären.

 Den Zwischenwertsatz für stetige Funktionen f : [ a, b ]   erhält man aus der Version des Satzes durch stetige Fortsetzung von f auf ganz  (konstant gleich f (a) auf ] −∞, a [ und konstant gleich f (b) auf ] b, ∞ [). Alternativ kann man den Beweis auch für f : [ a, b ]   mit Hilfe der Relativbegriffe führen. Die einzigen offenen und zugleich abgeschlossenen Mengen in [ a, b ] sind ∅ und [ a, b ], und damit ist [ a, b ] keine disjunkte Vereinigung zweier nichtleerer Mengen, die offen in [ a, b ] sind.

 Unser Verständnis der Unmöglichkeit des stetigen Überspringens von Werten wird durch den neuen Beweis noch einmal vertieft: Eine stetige Funktion kann einen zusammenhängenden Definitionsbereich verformen, aber nicht zerreißen. Wir werden im nächsten Kapitel den Begriff des Zusammenhangs einer Punktmenge präzisieren und genauer untersuchen.