Ausblick:  Stetigkeitsmengen

 Wir beginnen mit einer Definition.

Definition (Stetigkeitsmenge)

Für eine Funktion f :    sei

cont(f)  =  { x  ∈   | f ist stetig in x }

die Menge der Stetigkeitsstellen von f. Eine Menge P ⊆  heißt eine Stetigkeitsmenge, falls es ein f :    gibt mit P = cont(f).

Es gilt zum Beispiel

cont(f)  =    für alle stetigen f,

cont(1)  =  ∅,  cont(1{ 0 })  =   − { 0 },

cont(id 1)  =  { 0 },  cont(id 1 ∩ [ 0, ∞ [)  =  ] −∞, 0 ].

Wir fragen:

Welche topologische Komplexität haben die Stetigkeitsmengen?

Die Beispiele zeigen, dass offene und abgeschlossene Mengen und auch halboffene Intervalle als Stetigkeitsmengen auftreten. Komplexitätsstufen, die alle diese Mengen umfassen, sind die Fσ- und Gδ-Mengen (vgl. den Ausblick im letzten Kapitel). Umfassen diese Mengen die Stetigkeitsmengen? Und wenn ja: Sind alle Fσ- und Gδ-Mengen Stetigkeitsmengen? Zur Beantwortung dieser Fragen betrachten wir die Gδ-Menge  −  der irrationalen Zahlen. Sie ist tatsächlich eine Stetigkeitsmenge:

Definition (Thomae-Funktion)

Die Thomae-Funktion f :    ist definiert durch f (x) = 0, falls x  ∈   − , und f (m/n) = 1/n für gekürzte Brüche m/n  ∈   mit n ≥ 1.

analysis2-AbbID349

 Die Stetigkeitsstellen der Thomae-Funktion sind genau die irrationalen Zahlen. Allgemein lässt sich in Anlehnung an die Definition der Thomae-Funktion für jede Gδ-Menge

P  =  ⋂n Un,  Un offen für alle n,

eine Funktion g :    konstruieren, die P als Stetigkeitsmenge besitzt. Wir diskutieren dies in den Übungen. Damit gilt:

Jede Gδ-Menge ist eine Stetigkeitsmenge.

Überraschenderweise gilt auch die Umkehrung: Jede Stetigkeitsmenge ist eine Gδ-Menge. Zum Beweis müssen wir für eine gegebene Funktion f :    offene Mengen Un finden mit

cont(f)  =  ⋂n Un.

Ein Blick auf die Umgebungsstetigkeit legt die Mengen

Vn  =  { p  ∈   | ∃δ > 0 ∀x  ∈  Uδ(p) |f (x) − f (p)| < 1/2n }

nahe. Es gilt

cont(f)  =  ⋂n Vn,

jedoch sind die Mengen Vn im Allgemeinen leider nicht offen. Für die Funktion f :    mit

f (0)  =  0,  f (q)  =  1/2  für q  ∈  *,  f (x)  =  −1/2  für x  ∈   − 

gilt zum Beispiel V0 = { 0 }, denn für p = 0 ist jedes δ > 0 geeignet, während für jedes p ≠ 0 in jeder δ-Umgebung von p Stellen x mit |f (p) − f (x)| = 1 liegen. Eine Variation der Definition der Mengen Vδ führt jedoch zum Ziel. Hierzu beobachten wir:

Satz (kleine Bilder von Umgebungen)

Sei f : P   stetig in p  ∈  P, und sei ε > 0. Dann gibt es ein δ > 0 mit

∀x, y  ∈  Uδ(p) |f (x)  −  f (y)| <  ε.

Beweis

Sei δ > 0 derart, dass |f (x) − f (p)| < ε/2 für alle x  ∈  Uδ(p). Dann ist δ wie gewünscht, denn nach der Dreiecksungleichung gilt

|f (x) − f (y)|  ≤  |f (x) − f (p)|  +  |f (p) − f (y)|  <  ε  für alle x, y  ∈  Uδ(p).

 Damit können wir nun zeigen:

Satz (Stetigkeitsmengen sind Gδ-Mengen)

Sei f :   . Dann ist cont(f) eine Gδ-Menge.

Beweis

Für alle n sei

Un  =  { p  ∈   | ∃δ > 0 ∀x, y  ∈  Uδ(p) |f (x) − f (y)| < 1/2n }.

Dann gilt für alle p  ∈  :

(a)

U0  ⊇  U1  ⊇  …  ⊇  Un  ⊇  …

(b)

Un ist offen für alle n.

(c)

f ist stetig in p  genau dann, wenn  p  ∈  Un für alle n.

Folglich ist cont(f) = ⋂nUn eine Gδ-Menge.

 Das folgende Diagramm zeigt eine Funktion f :    mit cont(f) =  − *, für die die im Beweis betrachteten Mengen Un leicht zu bestimmen sind.

analysis2-AbbID351

U0  =  ,  U1  =    −  { −1, 1 },  U2  =    −  { −2, −1, 1, 2 },  …

 Da  keine Gδ-Menge ist, gibt es nach dem Satz keine Funktion f auf , die in allen rationalen Punkten stetig, in allen irrationalen Punkten aber unstetig ist. Der Leser vergleiche dies mit der Thomae-Funktion.

 Wir fassen zusammen:

Die Gδ-Mengen sind genau die Stetigkeitsmengen und die

Fσ-Mengen genau die Unstetigkeitsmengen der reellen Funktionen.

Ein bemerkenswertes Resultat, das unser Verständnis des Stetigkeitsbegriffs in einer ganz neuartigen Weise erweitert!

 Die Komplexitätsanalysen lassen sich noch fortsetzen. So sind zum Beispiel die Differenzierbarkeitsmengen diff (f) = { x  ∈   | f ist differenzierbar in x } reeller Funktionen Durchschnitte von abzählbar vielen Fσ-Mengen. Man nennt derartige Mengen auch Fσ, δ-Mengen. Sie bilden eine echte Obermenge der Fσ- und Gδ-Mengen.