Abstände und Normen

 Wie lässt sich der intuitive Begriff eines „Abstands“ oder einer „Metrik“ axiomatisch fassen? Ist X eine Menge, so soll ein „Abstand“ auf X eine Funktion d sein, die jedem Punktepaar { x, y } aus X eine reelle Zahl a größergleich Null zuordnet, die dann der Abstand von x und y bzgl. d heißt. Sicher soll x von sich selbst den Abstand Null haben, und umgekehrt ist es wünschenswert, dass x und y nur dann den Abstand Null aufweisen, wenn x = y gilt. Anstelle von ungeordneten Paaren { x, y } = { y, x } können wir auch geordnete Paare (x, y)  ∈  X2 betrachten und dann fordern, dass unsere Abstandsfunktion für (x, y) und (y, x) das gleiche Ergebnis liefert. Es soll also die Symmetrie d(x, y) = d(y, x) gelten, die nur ein Ausdruck dafür ist, dass wir lieber mit (x, y) als mit { x, y } arbeiten. Wir halten also fest:

Ein „Abstand“ auf einer Menge X ist eine Funktion d : X2  [ 0, ∞ [,

sodass für alle x, y  ∈  X unter anderem gilt:

d(x, y) = 0  genau dann, wenn  x = y,

d(x, y)  =  d(y, x).

Ein Blick auf die ε/2-Argumentation, wie sie etwa im Beweis der Eindeutigkeit des Grenzwerts einer Folge auftaucht, zeigt, dass die Dreiecksungleichung eine bedeutende Struktureigenschaft des Abstands zweier reeller Zahlen ist. Wir werden auf sie auch in unserem allgemeinen Abstandsbegriff nicht verzichten wollen und fordern also, dass immer d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z) gilt. Es ist bemerkenswert, dass wir mit diesen drei Bedingungen den Abstandsbegriff schon hinreichend scharf gefasst haben. Wir definieren:

Definition (Abstand, Metrik, metrischer Raum)

Sei X eine Menge, und sei d : X2  [ 0, ∞ [ eine Funktion. Dann heißt d eine Metrik oder ein Abstand auf X, falls für alle x, y, z  ∈  X gilt:

(a)

d(x, y)  =  0  genau dann, wenn  x  =  y, (Nullbedingung)

(b)

d(x, y)  =  d(y, x), (Symmetrie)

(c)

d(x, z)  ≤  d(x, y)  +  d(y, z). (Dreiecksungleichung)

Das Paar (X, d) heißt dann ein metrischer Raum.

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analysis2-AbbID352c

 Zusätzlich zur Dreiecksungleichung gelten (Übung):

Satz (umgekehrte Dreiecksungleichung, Vierecksungleichung)

Sei (X, d) ein metrischer Raum. Dann gilt alle x, y, z, u, v  ∈  X:

(a)

|d(x, z) − d(z, y)|  ≤  d(x, y),(umgekehrte Dreiecksungleichung)

(b)

|d(x, y) − d(u, v)|  ≤  d(x, u) + d(y, v).(Vierecksungleichung)

Beispiel 1

Sei X eine Menge. Dann ist die diskrete Metrik auf X definiert durch

d(x, x)  =  0  für alle x  ∈  X,  d(x, y)  =  1  für alle x ≠ y in X.

Beispiel 2

Sei (X, d) ein metrischer Raum. Wir setzen

d1(x, y)  =  min(1, d(x, y))  für alle x, y  ∈  X.

Dann ist d1 eine Metrik auf X. Kurz schreiben wir hierfür d1 = min(1, d). Ebenso wird durch d2 = d/(1 + d), d. h.

d2(x, y)  =  d(x, y) (1 + d(x, y))−1  für alle x, y  ∈  X

eine Metrik auf X erklärt. Beide Metriken haben lediglich Werte in [ 0, 1 ].

Beispiel 3

Sei X = ] − π/2, π/2 [. Für alle x, y  ∈  X sei d(x, y) = |tan(x) − tan(y)|. Dann ist d eine Metrik auf dem beschränkten Intervall X, deren Wertebereich das unbeschränkte Intervall [ 0, ∞ [ ist.

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Die Tangens-Metrik d

auf ] − π/2, π/2 [. Es gilt

limx  π/2 d(x, − x)  =  ∞.

Beispiel 4
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Für x = (2, 3) ist deuk(0, x) = 13, dmax(0, x) = 3 und dσ(0, x) = 5.

Sei n ≥ 1. Für alle x = (x1, …, xn) und y = (y1, …, yn)  ∈  n setzen wir

deuk(x, y)  =  (x1y1)2++(xnyn)2,

dmax(x, y)  =  max(|x1 − y1|, …, |xn − yn|),

dσ(x, y)  =  1 ≤ k ≤ n |xk − yk|.

Dann sind deuk, dmax und dσ Metriken auf X = n. Sie heißen die euklidische Metrik, die Maximumsmetrik bzw. die Summenmetrik auf dem n.

Beispiel 5
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Sei V = { f : P   | f beschränkt }, P beliebige Menge. Für f, g  ∈  V sei

d(f, g)  =  supx  ∈  P |f (x) − g(x)|.

Dann ist d eine Metrik auf V, die sog. Supremumsmetrik oder uniforme Metrik auf V. Analoges gilt für beschränkte komplexe Funktionen auf der Menge P.

Beispiel 6

Sei (X, d) ein metrischer Raum, und sei Y ⊆ X. Dann ist die Menge Y, versehen mit der Einschränkung von d auf Y2, ein metrischer Raum. Wir bezeichnen diesen Raum kurz mit (Y, d) und nennen ihn einen metrischen Teilraum von (X, d). So ist etwa der Raum (𝒞([ a, b ]), d) aller stetigen Funktionen auf einem kompakten Intervall [ a, b ] ein metrischer Teilraum des metrischen Raums (V, d) aus dem letzten Beispiel für P = [ a, b ].