Ausblick:  Metrisierung von unendlichen Produkten

 Wir wollen die endliche Produktbildung auf unendliche Produkte erweitern. Für endliche Produkte X = X1 × … × Xn hatten wir

(+)  dmax(x, y)  =  max1 ≤ k ≤ n dk(xk, yk),  dσ(x, y)  =  1 ≤ k ≤ n dk(xk, yk)

definiert, wobei x = (x1, …, xn), y = (x1, …, yn). Nun betrachten wir ein unendliches Produkt von Mengen Xn, n  ∈  , also die Menge

X  =  { (xn)n  ∈   | xn  ∈  Xn für alle n }.

Wir können die Elemente von X auch als Funktionen f :   ⋃n Xn mit der Eigenschaft f (n)  ∈  Xn für alle n angeben. Dies kann die Lesbarkeit erhöhen, wenn wir Folgen in X, also Folgen von Folgen betrachten. Eine solche Folge hat dann die Form (fn)n ∈  anstelle von ((xnk)k  ∈  )n  ∈  .

 Zur Metrisierung von X können wir bei vorliegenden Metriken dn auf Xn das Maximum und die endliche Summe in (+) durch ein Supremum bzw. eine unendliche Summe ersetzen. Um endliche Werte zu erhalten, müssen wir die Metriken zudem noch geeignet skalieren.

Definition (Metrisierung unendlicher Produkte)

Seien (Xn, dn) metrische Räume für alle n, und sei

X  =  { (xn)n  ∈   | xn  ∈  Xn für alle n }  =  { f | Def (f) = , f (n)  ∈  Xn für alle n }.

Dann setzen wir für alle x = (xn)n  ∈   und y = (yn)n  ∈   in X:

dsup(x, y)  =  supn 12n + 1 dn(xn, yn)1 + dn(xn, yn),

dσ(x, y)  =  n12n + 1 dn(xn, yn)1 + dn(xn, yn).

Wir schreiben

(X, dmax)  =  supn  ∈   (Xn, dn),  (X, dσ)  =  σn  ∈   (Xn, dn).

 Die Metriken dsup und dσ erzeugen denselben Konvergenzbegriff, der sich wie im endlichen Fall als koordinatenweise Konvergenz beschreiben lässt. Ist (fn)n ∈  eine Folge in X und f  ∈  X, so gilt sowohl für dmax als auch für dσ:

(+)  limn fn  =  f  genau dann, wenn  für alle k gilt: limn fn(k) = f (k) in (Xk, dk).

Gleiches gilt, wenn wir min(1, dn) statt dn/(1 + dn) verwenden. Sind alle Metriken dn bereits beschränkt durch 1, so kann man einfach dn einsetzen.

 Die Produktbildungen erhalten die Vollständigkeit: Sind alle (Xn, dn) vollständig, so sind auch (X, dmax) und (X, dσ) vollständig.

 Sind alle Faktoren (Xn, dn) gleich, so nennt man das Produkt auch eine unendliche Potenz. Zwei wichtige Beispiele sind:

Definition (Cantor-Raum und Baire-Raum)

Der Cantor-Raum 𝒞 ist das mit dmax oder dσ ausgestattete unendliche Produkt der mit der diskreten Metrik versehenen Räume Xn = { 0, 1 }.

Analog ist der Baire-Raum 𝒩 das unendliche Produkt der mit der diskreten Metrik versehenen Räume Xn = .

 Unter der Definition werden die Mengen

𝒞  =  { (xn)n  ∈   | xn  ∈  { 0, 1 } für alle n }  =  { f | f :   { 0 , 1 } }   und

𝒩  =  { (xn)n  ∈   | xn  ∈   für alle n }  =  { f | f :    }

aller 0-1-Folgen bzw. aller Folgen in  zu vollständigen metrischen Räumen. Diese Räume können wir uns als unendlich hohe Bäume vorstellen, die sich an jeder Stelle 2-fach bzw. -fach verzweigen.

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Ein unendlich hoher Baum, der sich an jedem Knoten unendlich oft verzweigt. Die Elemente des Baire-Raums 𝒩 sind unendliche Pfade durch diesen Baum.

 Die Konvergenz in 𝒞 und 𝒩 lässt sich sehr sympathisch beschreiben. Denn unter der diskreten Metrik konvergiert eine Folge genau dann, wenn sie schließlich konstant ist. Damit wird (+) für 𝒞 und 𝒩 zu:

(++)  limn fn  =  f  genau dann, wenn  für alle k gilt: fn(k) = f (k) schließlich.

Die rechte Seite ist äquivalent dazu, dass es für alle k0 ein n0 gibt, sodass für alle n ≥ n0 das Anfangsstück (fn(0), …, fn(k0)) von fn mit dem gleichlangen Anfangsstück (f (0), …, f (k0)) von f übereinstimmt. Damit können wir die Konvergenz in 𝒞 und 𝒩 als „Stabilisierung von Anfangsstücken“ beschreiben. Eine Folge von unendlichen Pfaden im Baum 𝒩 konvergiert, wenn für jede endliche Höhe irgendwann Einigkeit über den Verlauf besteht. Die Pfade fn ziehen sich dann anschaulich auf einen Pfad f, ihren Limes, zusammen. Analoges gilt für 𝒞.

 Von beiden Räumen führt ein bemerkenswerter Weg zu den reellen Zahlen. Der Cantor-Raum lässt sich stetig und bijektiv auf die Cantor-Menge C abbilden, indem wir (xn)n  ∈    ∈  𝒞 als links-rechts-Pfad durch die Teilintervalle der Mengen Cn der Drittel-Intervall-Konstruktion von

C  =  ⋂n  ∈   Cn

lesen und den Schnittpunkt der so definierten Intervallschachtelung bilden. Die so entstehende Bijektion F : 𝒞  C können wir auch so definieren:

„Ersetze in einer 0-1-Folge (xn)n  ∈   jede 1 durch eine 2 und lese

die entstehende Folge als reelle Zahl in 3-adischer Darstellung.“

Es gilt also

F((xn)n  ∈  )  =  n ≥ 02xn3n + 1  für alle (xn)n  ∈    ∈  𝒞.

Dieser enge Zusammenhang zwischen 𝒞 und C erklärt die Namensgebung „Cantor-Raum“. Auch der Baire-Raum lässt sich mit einer Teilmenge des Kontinuums in Verbindung bringen. Mit Hilfe von Kettenbruchentwicklungen erhält man eine stetige und bijektive Abbildung

G : 𝒩    − 

zwischen 𝒩 und den irrationalen Zahlen. Konkret kann man für alle (xn)n  ∈   in  definieren:

G((xn)n  ∈  )  =  g(x0)  +  1[ x1 + 1, x2 + 1, x3 + 1, …, xn + 1, … ],

wobei g :    eine beliebige Bijektion ist. Die unendlichen Kettenbrüche im Nenner des Bruchs durchlaufen alle irrationalen Zahlen in ] 1, ∞ [, sodass ihre Kehrwerte alle irrationalen Zahlen in ] 0, 1 [ durchlaufen. Durch das Vorschalten der ganzen Zahl g(x0) entsteht eine Bijektion zwischen 𝒩 und  − .

 Auch die Umkehrungen der Abbildungen F und G sind stetig, sodass man aus topologischer Sicht 𝒞 mit der Cantor-Menge C und 𝒩 mit der Menge der irrationalen Zahlen identifizieren kann.