Ausblick: Charakterisierung der Riemann-Integrierbarkeit
Als weitere Anwendung des Kompaktheitsbegriffs beweisen wir nun die im Ausblick zu 1.3 angegebene Charakterisierung der Riemann-integrierbaren Funktionen mit Hilfe von Lebesgue-Nullmengen:
Satz (Integrierbarkeitskriterium von Lebesgue)
Sei f : [ a, b ] → ℝ beschränkt. Dann sind äquivalent:
(a) | f ist Riemann-integrierbar. |
(b) | P = { x ∈ [ a, b ] | f ist unstetig in x } ist eine Lebesgue-Nullmenge. |
Wir verwenden die Kompaktheit des Intervalls [ a, b ] im Beweis von „(b) impliziert (a)“.
Beweis
(a) impliziert (b) :
Für alle n sei pn die äquidistante Partition von [ a, b ] der Feinheit (b − a)/2n. Weiter seien gn = fspn und hn = fSpn die der unteren bzw. oberen Darboux-Summe von f bzgl. pn zugeordneten Treppenfunktionen.
Dann konvergiert (gn)n ∈ ℕ monoton steigend gegen ein g und (hn)n ∈ ℕ monoton fallend gegen ein h. Es gilt g ≤ f ≤ h, und die Funktionen g und h sind Riemann-integrierbar mit I(g) = I(f) = I(h). Wir betrachten:
N | = { x ∈ [ a, b ] | g(x) < h(x) }, |
S | = { x ∈ [ a, b ] | f ist stetig in x }, |
T | = { t ∈ [ a, b ] | t ist ein Zerlegungspunkt einer Partition pn }. |
Dann gilt:
[ a, b ] − N = { x ∈ [ a, b ] | g(x) = f (x) = h(x) } = S ∪ T.
Wegen I(h − g) = 0 und h − g ≥ 0 ist N eine Nullmenge. Denn ist s : [ a, b ] → [ 0, ∞ [ integrierbar mit I(s) = 0, so ist für alle n
Mn = { x | s(x) ≥ 1/2n }
eine Nullmenge, und damit ist ⋃n Mn = { x | s(x) > 0 } eine Nullmenge.
Da die Menge T abzählbar ist, ist T eine Nullmenge. Folglich ist auch
P = [ a, b ] − S ⊆ N ∪ T
eine Nullmenge.
(b) impliziert (a) :
Sei ε > 0. Sei c > 0 derart, dass |f| beschränkt durch c/2 ist. Dann gilt |f (x) − f (y)| ≤ c für alle x, y ∈ [ a, b ]. Da P eine Nullmenge ist, gibt es offene Intervalle In der Länge λn mit
P ⊆ ⋃n In und ∑n λn < ε2 c.
Für jedes p ∈ S = [ a, b ] − P sei Jp ein offenes Intervall mit p ∈ Jp und
|f (x) − f (y)| < ε2(b − a) für alle x, y ∈ Jp.
Dann ist
𝒰 = { In | n ∈ ℕ } ∪ { Jp | p ∈ S }
eine offene Überdeckung von [ a, b ]. Da [ a, b ] kompakt ist, gibt es n1, …, nk und p1, …, pr ∈ S mit
[ a, b ] ⊆ In1 ∪ … ∪ Ink ∪ Jp1 ∪ … ∪ Jpr.
Sei (tk)k ≤ n die Zerlegung von [ a, b ], die durch die Intervallgrenzen dieser endlichen Teilüberdeckung definiert wird. Dann gilt
(+) Sp f − sp f ≤ ε2 c c + ε2(b − a) (b − a) = ε.
Also ist f Riemann-integrierbar.
Der Leser, der über die Ungleichung (+) mit Hilfe einer Skizze nachgedacht hat, wird dem Argument eine gewisse Eleganz nicht absprechen können. Alle Unstetigkeitsstellen von f liegen in sehr kleinen Intervallen der Partition, sodass wir es uns leisten können, die Oszillation von f dort grob durch die Schranke c abzuschätzen. In den anderen Teilen der Partition ist f stetig, und die Definition der Mengen Jp garantiert, dass f dort kaum oszilliert.
Wir illustrieren das Ergebnis durch einige Beispiele.
Beispiele
(1) | Jede beschränkte Funktion f : [ a, b ] → ℝ mit höchstens abzählbar vielen Unstetigkeitsstellen ist Riemann-integrierbar. |
(2) | Die Indikator-Funktion der Cantor-Menge C ist Riemann-integrierbar. |
(3) | Eine Komposition g ∘ f ist Riemann-integrierbar, wenn g stetig und f Riemann-integrierbar ist. (Denn die Menge der Unstetigkeitsstellen von g ∘ f ist eine Teilmenge der Menge der Unstetigkeitsstellen von f.) |
Der Satz von Lebesgue ist ein schönes Beispiel dafür, wie der „höhere Standpunkt“ einen klaren Blick auf einen wichtigen, aus der Schule bekannten Begriff der Mathematik ermöglicht. Die Stufen, die hier zu nehmen sind, sind beachtlich: Wir müssen die Definition des Riemann-Integrals kennen, mit den Eigenschaften der approximierenden Treppenfunktionen vertraut sein, den Stetigkeitsbegriff beherrschen und mit offenen Überdeckungen argumentieren können. Und doch ist das Ergebnis insgesamt noch gut zugänglich.