Kurven und Parametrisierungen
Wir beginnen mit einigen notationellen Vorbereitungen. Ist m ≥ 1 und x ∈ ℝm, so sei xj die j-te Koordinate von x für j = 1, …, m, d. h., es gilt
x = (x1, …, xm), (x1, …, xm)j = xj.
Funktionen, die auf einer beliebigen Menge P definiert sind und Werte im ℝm annehmen, können wir ebenfalls koordinatenweise betrachten:
Definition (Projektionen, prj(f), fj)
Sei P eine Menge, und sei f : P → ℝm eine Funktion. Für j = 1, …, m sei
prj(f) (x) = f (x)j für alle x ∈ P.
Dann heißt die Funktion prj(f) : P → ℝ die Projektion von f auf die j-te Koordinate. Wir schreiben auch kurz fj anstelle von prj(f).
Nach Definition gilt also
f (x) = (f1(x), …, fm(x)) = (f (x)1, …, f (x)m) für alle x ∈ P.
Eine Funktion f : P → ℝm besteht in diesem Sinne aus den Funktionen f1, …, fm, die auf P definiert sind und reelle Werte annehmen. Wir nennen die Funktionen f1, …, fm auch die Komponenten oder Koordinatenfunktionen von f.
Ist P ⊆ ℝ und f : P → ℝ2, so ist f eine komplexwertige Funktion. Die Projektion pr1(f) = f1 ist in diesem Fall die Realteilfunktion Re(f) und die Projektion pr2(f) = f2 die Imaginärteilfunktion Im(f).
Wir versehen den ℝm mit der euklidischen Metrik. Die Konvergenz einer Folge (xk)k ∈ ℕ im ℝm gegen ein y ∈ ℝm ist dann gleichbedeutend mit der koordinatenweisen Konvergenz, d. h., es gilt
y = limk xk genau dann, wenn yj = limk (xk)j für alle j = 1, …, m.
Ist P ⊆ ℝ, so ist ein f : P → ℝm genau dann stetig in einem Punkt p ∈ P, wenn alle Projektionen f1, …, fm : P → ℝ stetig in p sind. Für alle gegen p konvergenten Folgen (xk)k ∈ ℕ in P gilt dann
limk f (xk) = f (p) = (f1(p), …, fm(p)),
sodass
limx → p f (x) = f (p) = (f1(p), …, fm(p)) = (limx → p f1(x), …, limx → p fm(x)).
Im Folgenden betrachten wir stetige Funktionen f : [ a, b ] → ℝm, die auf einem kompakten reellen Intervall [ a, b ] mit a < b definiert sind. Unsere bevorzugte Variable für die Elemente des Definitionsbereichs von f ist die „Zeitvariable“ t. Vorstellung ist, dass f die Bahn eines Punktes beschreibt, der sich zur Zeit t am Ort f (t) ∈ ℝm befindet. Physikalisch kann der Punkt ein Teilchen oder der Schwerpunkt eines Körpers sein („Massepunkt“). Diese kinematische Interpretation ist oft hilfreich, soll aber andere Vorstellungen nicht verdrängen. Wenn wir uns für geometrische Eigenschaften des kompakten Wertebereichs C ⊆ ℝ2 von f interessieren, so können wir f als eine funktionale Darstellung von C auffassen, durch die die Menge C analytischen Methoden zugänglich wird. Wir nennen f auch eine Parametrisierung von C. Unabhängig von Interpretationen definieren wir:
Definition (Kurve im ℝm, Parameter, Spur, Bahn, geschlossen, fast injektiv)
Ein stetiges f : [ a, b ] → ℝm heißt eine (parametrisierte) Kurve im ℝm. Ein t ∈ [ a, b ] nennen wir auch einen Parameter der Kurve. Wir setzen
spur(f) = f [ [ a, b ] ] = { f (t) | t ∈ [ a, b ] } ⊆ ℝm
und nennen spur(f) die Spur oder Bahn von f. Weiter heißt f (a) Start- oder Anfangspunkt und f (b) der End- oder Zielpunkt der Kurve. Die Kurve heißt geschlossen, falls f (a) = f (b) gilt. Sie heißt fast injektiv, wenn ein endliches E ⊆ [ a, b ] existiert, sodass f (t) ≠ f (s) für alle t, s ∈ [ a, b ] − E mit t ≠ s.
Beispiel 1
Die Funktion f : [ 0, 2π ] → ℝ2 mit
f (t) = ei t = (cos(t), sin(t)) für alle t ∈ [ 0, 2π ]
ist eine geschlossene fast injektive Kurve. Sie beschreibt kinematisch die Bewegung eines Punktes, der beginnend und endend im Punkt (1, 0) den Einheitskreis K mit gleichmäßiger Geschwindigkeit gegen den Uhrzeigersinn durchläuft. Der Punkt benötigt hierzu die Zeit 2π.
Beispiel 2
Definieren wir g : [ 0, 2π ] → ℝ2 mit f wie in Beispiel 1 durch
g(t) = f(2π − t) = ei (2π − t) = e−i t = (cos(t), −sin(t)) für alle t ∈ [ 0, 2π ],
so beschreibt die Kurve g die gleichmäßige Kreisbewegung eines Punktes von (1, 0) nach (1, 0) in der Zeit 2π im Uhrzeigersinn.
Beispiel 3
Ist c ∈ ℝ, c ≠ 0, und hc : [ 0, 2π/c ] → ℝ2 definiert durch
hc(t) = eict = (sin(ct), cos(ct)) für alle t ∈ [ 0, 2π/c ],
so beschreibt die Kurve hc für c > 0 eine Kreisbewegung wie f und für c < 0 wie g aus den vorangehenden Beispielen. Der Kreis wird dabei mit der konstanten Geschwindigkeit |c| durchlaufen.
Die Kurven f, g und hc dieser drei Beispiele haben dieselbe Spur, aber sie durchlaufen sie unterschiedlich. Wir definieren hierzu:
Definition (Parametertransformation, orientierungstreu)
Sei f : [ a, b ] → ℝm eine Kurve. Weiter sei φ : [ c, d ] → [ a, b ] stetig und bijektiv. Dann heißt φ eine Parametertransformation und
f ∘ φ : [ c, d ] → ℝm
heißt die durch φ transformierte oder umparametrisierte Kurve f. Gilt φ(c) = a und φ(d) = b, so heißt φ orientierungstreu. Gilt dagegen φ(c) = b und φ(d) = a, so heißt φ orientierungsumkehrend.
Da eine Parametertransformation φ stetig und bijektiv ist und ein reelles Intervall in ein reelles Intervall überführt, ist φ streng monoton wachsend oder streng monoton fallend. Im ersten Fall ist φ orientierungstreu, im zweiten orientierungsumkehrend. Ist φ orientierungstreu, so wird die Kurve f ∘ φ in derselben Richtung wie f durchlaufen. Bei einer orientierungsumkehrenden Transformation ändert sich dagegen die Durchlaufrichtung. Eine Parametertransformation ändert im Allgemeinen also das Zeitintervall, den Geschwindigkeitsverlauf und die Durchlaufrichtung.
Sind g und f Kurven im ℝm und gibt es eine orientierungstreue Parametertransformation φ mit g = f ∘ φ, so nennen wir f und g äquivalente Kurven, in Zeichen f ∼ g. Die Relation ∼ ist eine Äquivalenzrelation auf den Kurven im ℝm. Eine Äquivalenzklasse f/∼ = { g : [ a, b ] → ℝm | f ∼ g } der Relation ∼ wird auch als Weg bezeichnet, wobei die Konventionen nicht einheitlich sind (in der Funktionentheorie meint „Weg“ oft eine „stückweise stetig differenzierbare Kurve“). Viele Begriffe für Kurven respektieren die Relation ∼ und können deswegen für Äquivalenzklassen definiert werden (ein Beispiel ist die Länge, die wir im nächsten Kapitel definieren werden). Wir bleiben im Folgenden bei den Kurven.
Beispiel 4
Wir betrachten eine Kurve f : [ 0, 1 ] → ℝ2 und ihre Komponenten f1 und f2 sowie die Kurve g = f ∘ φ für die orientierungsumkehrende Parametertransformation φ : [ 0, 2 ] → [ 0, 1 ].
f : [ 0, 1 ] → ℝ2,
f (t) = (cos(6t) + t + 1, sin(12t) + 3/2)
f1(t) = cos(6t) + t + 1
f2(t) = sin(12t) + 3/2
φ : [ 0, 2 ] → [ 0, 1 ], φ(t) = 1 − t/2
g = f ∘ φ : [ 0, 2 ] → ℝ2
g1(t) = cos(6φ(t)) + φ(t) + 1
g2(t) = sin(12φ(t)) + 3/2
Beispiel 5
Für k ≥ 1 und reelle r, v ≥ 0 sei fk, r, v : [ 0, k2π ] → ℝ2 definiert durch
fk, r, v(t) = (cos(t) + r cos(vt), sin(t) + r sin(vt)) für alle t ∈ [ 0, k2π ].
Eine Kurve fk, r, v lässt sich als überlagerte Kreisbewegung interpretieren:
(a) | Der Mittelpunkt eines Kreises mit Radius r bewegt sich auf einem Kreis mit Radius 1 mit konstanter Geschwindigkeit gegen den Uhrzeigersinn. Für t = 0 und t = 2π, …, k 2π befindet sich der Mittelpunkt bei (1, 0). |
(b) | Der Kreis mit Radius r dreht sich konstant gegen den Uhrzeigersinn um sich selbst und macht dabei v Umdrehungen in der Zeit 2π. |
(c) | Wir verfolgen die Bahn des Punktes (1 + r, 0), t = 0, auf dem Kreis mit Radius r unter dieser kombinierten Bewegung. |
Die Diagramme zeigen die Spuren von fk, r, v für einige Parameter k, r und v. (Auf Kreisen abrollende Kreise besprechen wir im nächsten Kapitel.)
k = 1, r = 0,2, v = 10
k = 1, r = 0,1, v = 20
k = 1, r = 0,15, v = 6π
k = 2, r = 0,15, v = 6π
Beispiel 6
Sei k ≥ 1 und f : [ 0, k2π ] → ℝ3 mit
f (t) = (cos(t), sin(t), t).
Dann beschreibt f eine Schraub- oder Spiralbewegung im dreidimensionalen Raum mit k vollständigen Umdrehungen. Die Spur von f ist eine Teilmenge des Zylinders
Z = { x ∈ ℝ3 | x21 + x22 = 1 }.
Spur der Schraubbewegung und Tangentialvektor für t = 8 aus Beispiel 6 (mit k = 2)
Beispiel 7
Ist g : [ a, b ] → ℝ eine stetige Funktion, so ist f : [ a, b ] → ℝ2 mit
f (t) = (t, g(t)) für alle t ∈ [ a, b ]
eine injektive Kurve, die anschaulich den Graphen von g durchläuft. Identifizieren wir f und g mit ihren Graphen, so gilt
spur(f) = g = { (t, g(t)) | t ∈ [ a, b ] },
f = { (t, (t, g(t))) | t ∈ [ a, b ] }.
Wir werden im Ausblick sehen, dass auch überraschende Funktionen unter den Kurvenbegriff fallen.