Tangentialvektoren und Momentangeschwindigkeiten
Wir betrachten Kurven lokal.
Definition (differenzierbare Kurve, Tangentialvektor, regulär, singulär)
Eine Kurve f : [ a, b ] → ℝm heißt (stetig) differenzierbar in t ∈ [ a, b ], falls die Komponenten f1, …, fm von f (stetig) differenzierbar im Punkt t sind.
Ist f differenzierbar in t, so heißt
f ′(t) = (f1′(t), …, fm′(t)) ∈ ℝm
die Ableitung oder der Tangentialvektor von f in t. Gilt f ′(t) ≠ 0, so heißt t regulär. Andernfalls heißt t singulär.
Eine Kurve f heißt (stetig) differenzierbar, falls f in allen t ∈ [ a, b ] (stetig) differenzierbar ist. Sie heißt regulär, falls jedes t ∈ [ a, b ] regulär ist.
f wie in Beispiel 4 oben mit um den Faktor 1/10 skalierten Tangentialvektoren
In unserer kinematischen Interpretation ist f ′(t) die Geschwindigkeit eines Punktes zur Zeit t, der sich im n-dimensionalen Raum gemäß f von f (a) nach f (b) bewegt. Diese Geschwindigkeit ist ein Vektor im ℝm. Ihr Betrag ist
v = ∥ f ′(t) ∥ = .
Ist t regulär, so ist f ′(t)/v die auf die Länge 1 normierte Richtung der Geschwindigkeit zur Zeit t. Ist t singulär, so steht der Punkt zur Zeit t im Raum still.
Ist f : [ a, b ] → ℝm eine differenzierbare Kurve und φ : [ c, d ] → [ a, b ] eine differenzierbare Parametertransformation, so gilt für die reparametrisierte Kurve g = f ∘ φ nach der Kettenregel
g′(s) = φ′(s) (f1′(φ(s)), …, fm′(φ(s))) = φ′(s) f ′(φ(s)) für alle s ∈ [ c, d ],
wobei φ′(s) ein Skalar und f ′(φ(s)) ein Vektor im ℝm ist. Ist s regulär für g, so liegt also der Tangentialvektor der Kurve f zur Zeit φ(s) auf derselben Geraden wie der Tangentialvektor der Kurve g zur Zeit s. Ist φ orientierungstreu, so stimmen auch die Richtungen der beiden Tangentialvektoren überein.
Schnittwinkel
Mit Tangentialvektoren können wir einen Winkel definieren, in dem sich zwei reguläre Kurven schneiden. Wir verwenden hierzu das kanonische Skalarprodukt
〈 v, w 〉 = ∑1 ≤ j ≤ m vj wj für alle v, w ∈ ℝm.
Bekanntlich definiert man den Winkel zwischen zwei Vektoren v, w ≠ 0 im ℝm als das eindeutige α ∈ [ 0, π ] mit
cos(α) = 〈 v̂, ŵ 〉 = 〈 v, w 〉∥ v ∥ ∥ w ∥ ∈ [ −1, 1 ] (mit der Normierung v̂ = v/∥ v ∥).
Diese Definition übertragen wir nun auf Kurven.
Definition (Schnittwinkel zweier Kurven)
Seien f : [ a, b ] → ℝm, g : [ c, d ] → ℝm Kurven, die in t ∈ [ a, b ] bzw. s ∈ [ c, d ] differenzierbar und dort regulär sind. Es gelte f (t) = g(s). Dann heißt das eindeutige α ∈ [ 0, π ] mit
cos(α) = 〈 f ′(t), g′(s) 〉∥ f ′(t) ∥ ∥ g′(s) ∥
der Winkel zwischen f und g bei t und s.