Ausblick:  Peano-Kurven

 Wie komplex kann eine Kurve f : [ 0, 1 ]  2 in der Ebene sein? Die Anschauung, dass eine Kurve eine einfache Linie ist, täuscht:

Satz (Existenz raumfüllender Kurven)

Es gibt eine Kurve f : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ]2, die surjektiv ist.

 Eine stetige Surjektion f : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ]2 nennt man auch eine Peano-Kurve von [ 0, 1 ] nach [ 0, 1 ]2. Für alle Punkte (x, y) des abgeschlossenen Einheitsquadrats existiert ein Punkt t des abgeschlossenen Einheitsintervalls mit f (t) = (x, y), und die Abbildung f ist zudem auch noch stetig. Die Spur von f ist der Laufweg eines Saugroboters, der in der Zeit [ 0, 1 ] den Teppich [ 0, 1 ]2 Punkt für Punkt absaugt. Die kinematische Interpretation ist hier nur noch ideell möglich. Aber auch aus abstrakter topologischer Sicht ist das Ergebnis überraschend. Wir können das Intervall [ 0, 1 ] stetig in das Quadrat [ 0, 1 ] × [ 0, 1 ] überführen!

 Widersprechen raumfüllende Kurven nicht unseren topologischen Ergebnissen über stetige Funktionen auf kompakten Intervallen? Dies ist nicht der Fall. Zunächst ist das Bild einer kompakten Menge unter einer stetigen Funktion wieder kompakt. Dies ist erfüllt, da [ 0, 1 ]2 kompakt ist. Weiter ist das Bild einer zusammenhängenden Menge wieder zusammenhängend. Dies ist auch erfüllt, denn [ 0, 1 ]2 ist zusammenhängend. Ebenso ist [ 0, 1 ]2 wie [ 0, 1 ] auch wegzusammenhängend. Unsere topologischen Ergebnisse schließen die Existenz einer Peano-Kurve also nicht aus. Sie zeigen aber:

Satz (Peano-Kurven sind nicht injektiv)

Es gibt keine stetige Bijektion g : [ 0, 1 ]2  [ 0, 1 ]. Insbesondere ist eine Peano-Kurve f : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ]2 nicht injektiv.

Beweis

Annahme, es gibt eine stetige Bijektion g : [ 0, 1 ]2  [ 0, 1 ]. Sei dann z*  ∈  2 das Urbild des Punktes 1/2 unter g, sodass also g(z*) = 1/2.

Wir betrachten nun die Einschränkung h von g auf das punktierte Einheitsquadrat P = [ 0, 1 ]2 − { z* }. Da g bijektiv ist, ist

h : P  [ 0, 1 ] − { 1/2 } stetig und bijektiv.

Aber die Menge P ist wegzusammenhängend, das Bild [ 0, 1 ] − { 1/2 } von P unter h dagegen nicht. Dies ist ein Widerspruch, da stetige Surjektionen den Zusammenhang erhalten.

Zum Zusatz:

Wäre f : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ]2 eine injektive Peano-Kurve, so wäre die Umkehrfunktion g : [ 0, 1 ]2  [ 0, 1 ] von f eine stetige Bijektion nach dem Homöomorphiesatz, was nicht sein kann.

 Das Argument lautet in Kurzform:

Punktierungen erhalten den Zusammenhang der Ebene,

zerstören aber den Zusammenhang der Geraden.

Unsere Intuition über die unterschiedlichen Dimensionen der Ebene und der Geraden ist also insofern gerettet, dass es keine stetige Bijektion zwischen [ 0, 1 ] und [ 0, 1 ]2 geben kann. Allgemeiner gilt, dass es für alle n ≠ m keine stetige Bijektion zwischen [ 0, 1 ]n und [ 0, 1 ]m gibt (Satz von Luitzen Brouwer 1911).

 Der Leser wird sich nun wahrscheinlich fragen, wie man Peano-Kurven konstruieren kann. Wir skizzieren zwei Möglichkeiten. Bei der ersten konstruieren wir zunächst Approximationen an die gesuchte Kurve und führen dann einen Grenzübergang durch. Bei der zweiten nutzen wir die topologische Struktur der Cantor-Menge für eine direkte Konstruktion.

Konstruktion einer Peano-Kurve nach Hilbert

Die Idee der Konstruktion ist, einfache Kurven

fn : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ]2,  n  ∈  ,

zu konstruieren, die das Einheitsquadrat dichter und dichter durchlaufen. Dabei entfernt sich die nächste Kurve fn + 1 nicht weit von fn, sodass eine stetige Grenzfunktion f definiert werden kann. Die Verdichtung der Kurven fn führt zur Surjektivität von f. Die Spur jeder Kurve von [ 0, 1 ] nach [ 0, 1 ]2 ist kompakt und damit abgeschlossen, sodass eine in [ 0, 1 ]2 dichte Wertemenge bereits zur Surjektivität führt. Zur Umsetzung dieser Idee betrachten wir die folgenden numerierten Aufteilungen des Einheitsquadrats [ 0, 1 ]2, die der Lesbarkeit halber skaliert sind:

1

2

4

3

1

4

5

6

2

3

8

7

15

14

9

10

16

13

12

11

1

2

15

16

17

20

21

22

4

3

14

13

18

19

24

23

5

8

9

12

31

30

25

26

6

7

10

11

32

29

28

27

59

58

55

54

33

36

37

38

60

57

56

53

34

35

40

39

61

62

51

52

47

46

41

42

64

63

50

49

48

45

44

43

Wir erhalten nun Kurven f1, f2, f3 von [ 0, 1 ] nach [ 0, 1 ]2, indem wir die Mittelpunkte der einzelnen Quadrate gemäß der Numerierung durch gerade Linien verbinden, wobei die Kurven auf diesen Verbindungslinien eine konstante Geschwindigkeit besitzen sollen. Führt man die Konstruktion fort, so erhält man eine konvergente Folge von Kurven fn, deren punktweiser Limes f eine Peano-Kurve ist.

analysis2-AbbID439a
analysis2-AbbID439b
analysis2-AbbID439c
analysis2-AbbID439d
analysis2-AbbID439e
analysis2-AbbID439f

Die Diagramme zeigen die Spuren der Approximationen f1, …, f6 : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ]2 an die Peano-Kurve f. Jedes fn ist durch eine Liste von 4n Punkten definiert. In jedem Schritt wird jeder Punkt nach einem bestimmten Schema durch vier neue Punkte ersetzt, die mit dem alten Punkt eine 5 wie auf einem Würfel bilden.

Konstruktion einer Peano-Kurve mit Hilfe der Cantor-Menge

Sei C = ⋂n  ∈   Cn ⊆ [ 0, 1 ] die Cantor-Menge, mit durch wiederholtes Entfernen von Drittelintervallen definierten Mengen Cn. Wir verwenden, dass die Menge C aus allen Punkten t  ∈  [ 0, 1 ] besteht, die eine Ternärdarstellung der Form

t  =  0,d1d2d3…  =  k ≥ 1 dk3k,  dk  ∈  { 0, 2 }  für alle k ≥ 1

besitzen. Jede Ternärdarstellung eines Punktes t  ∈  C ist eindeutig. Für jedes ternär dargestellte t = 0,d1d2d3…  ∈  C können wir also einen Punkt

g(p)  =  (x, y)  ∈  [ 0, 1 ]2,

definieren, indem wir in Binärdarstellung schreiben

x  =  0, b1 b3 b5 …,  y  =  0, b2 b4 b6 …,  wobei

bk=0falls dk=0,1falls dk=2.

Mit anderen Worten:

Wir ersetzen in der eindeutigen Ternärdarstellung von p  ∈  C alle Zweien durch Einsen und erhalten durch Aufspalten der Nachkommastellen zwei 0-1-Folgen. Diese Folgen definieren, binär gelesen, einen Punkt in [ 0, 1 ]2.

Die Konstruktion liefert eine stetige Surjektion g : C  [ 0, 1 ]2. Erneut kann g nicht bijektiv sein, da sonst aufgrund der Kompaktheit von C die Umkehrfunktion g−1 : [ 0, 1 ]2  C stetig und bijektiv wäre; dies ist unmöglich, da C unzusammenhängend ist. Die Funktion g : C  [ 0, 1 ]2 können wir stetig nach [ 0, 1 ] fortsetzen, indem wir sie auf den bei der Konstruktion von C entfernten mittleren Drittelintervallen linear interpolieren; an den Randpunkten dieser Drittelintervalle ist g ja bereits definiert. Diese stetige Fortsetzung von g nach [ 0, 1 ] − die wir wieder g nennen − ist eine Peano-Kurve von [ 0, 1 ] nach [ 0, 1 ]2.

Die topologische Natur von C spielt für diese Konstruktion eine wichtige Rolle. Jedes durch Vermeidung von 9-er Perioden eindeutig dezimal dargestellte t  ∈  [ 0, 1 ] können wir durch Aufspalten von Nachkommastellen auf h(t)  ∈  [ 0, 1 ]2 abbilden. Die so entstehende Abbildung h : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ]2 ist surjektiv, aber unstetig,

etwa an der Stelle t = 0,1 = limn 0,09…9 mit n Neunen. Analoges gilt für beliebige b-adische Darstellungen mit b ≥ 2.

Die Konstruktion der Peano-Kurve g mit Hilfe der Cantor-Menge C können wir visualisieren, indem wir gn(t) = g(t) für die Randpunkte der Intervalle in Cn setzen und gn linear interpolieren, um eine auf [ 0, 1 ] definierte Funktion zu erhalten. Die entstehenden Funktionen gn grasen [ 0, 1 ]2 „von links unten nach links oben nach rechts unten nach rechts oben“ ab, unter Wiederholung dieses Schemas in kleineren Quadraten.

analysis2-AbbID441a

Verlauf von g2

analysis2-AbbID441b

Verlauf von g4

analysis2-AbbID441c

Spur von g6

analysis2-AbbID441d

Ein Anfangsstück von g8, I

analysis2-AbbID441e

Ein Anfangsstück von g8, II

analysis2-AbbID441f

Ein Anfangsstück von g8, III