Der Mittelwertsatz

 Die Kettenregel erlaubt uns, den eindimensionalen Mittelwertsatz auf reellwertige mehrdimensionale Funktionen zu übertragen. Für a, b  ∈  n definieren wir die Strecke von a nach b durch

ab  =  { a + t (b − a) | t  ∈  [ 0, 1 ] },

und wir sagen, dass ein p zwischen a und b liegt, wenn p  ∈  ab, p ≠ a, b.

Satz (Mittelwertsatz für reellwertige mehrdimensionale Funktionen)

Sei f : P   differenzierbar. Seien a ≠ b in P derart, dass ab ⊆ P.

Dann gibt es ein p zwischen a und b mit

f (b)  −  f (a)  =  Jf(p) (b − a).

Beweis

Sei h : [ 0, 1 ]  P definiert durch

h(t)  =  a  +  t (b − a)  für alle t  ∈  [ 0, 1 ].

Dann ist g = f ∘ h : [ 0, 1 ]   differenzierbar. Nach dem eindimensionalen Mittelwertsatz gibt es also ein t  ∈  ] 0, 1 [ mit

f (b)  −  f (a)  =  g(1)  −  g(0)  =  g′(t) · (1 − 0)  =  g′(t).

Nach der Kettenregel gilt für alle t  ∈  ] 0, 1 [:

g′(t)  =  Jg(t)  =  Jf ∘ h(t)  =  Jf(h(t)) · Jh(t)  =  Jf(h(t)) (b − a),

wobei wir (1 × 1)-Matrizen mit reellen Zahlen identifizieren. Damit ist p = h(t) wie gewünscht.

 Der Satz liefert für eine differenzierbare Funktion f : P  m und a, b  ∈  P mit ab ⊆ P Stellen p1, …, pm  ∈  P mit

f (b) − f (a)  =  (Jf1(p1)(b − a),  …,  Jfm(pm)(b − a)).

Im Allgemeinen gibt es aber kein p  ∈  P mit f (b) − f (a) = Jf(p) (b − a), man betrachte etwa f :   2 mit f (t) = ei t und a = 0, b = 2π.

 In Analogie zum Eindimensionalen erhalten wir aus dem Mittelwertsatz:

Korollar (Charakterisierung der konstanten Funktionen)

Sei P ⊆ n zusammenhängend und f : P  m differenzierbar. Dann ist f genau dann konstant, wenn Jf = 0.

Beweis

Ist f konstant, so ist offenbar Jf = 0. Für die andere Implikation sei ohne Einschränkung m = 1. Da P wegzusammenhängend und offen ist, gibt es für alle a, b  ∈  P Punkte a0 = a, a1, …, ar = b in P mit akak + 1 ⊆ P für alle k. Wegen Jf = 0 ist dann aber f (ak) = f(ak + 1) für alle k nach dem Mittelwertsatz.

 Ebenfalls wie im Eindimensionalen gilt, dass die Beschränktheit der Ableitung die Lipschitz-Stetigkeit der Funktion impliziert. Dabei verwenden wir wieder die Spektralnorm für die Jacobi-Matrizen.

Satz (Schrankensatz, Lipschitz-Stetigkeit bei beschränkter Ableitung)

Sei f : P  m stetig differenzierbar mit P konvex, d. h., es gelte ab ⊆ P für alle a, b  ∈  P. Weiter sei L  ∈   mit

∥ Jf(p) ∥  ≤  L  für alle p  ∈  P.

Dann ist f Lipschitz-stetig mit der Lipschitz-Konstanten L, d. h.,

∥ f (a)  −  f (b) ∥  ≤  L ∥ a  −  b ∥  für alle a, b  ∈  P.

Beweis

Seien a ≠ b in P, h : [ 0, 1 ]  P ⊆ n, h(t) = a + t (b − a) für alle t, und g = f ∘ h : [ 0, 1 ]  m. Dann gilt nach der Kettenregel für alle t  ∈  [ 0, 1 ]:

Jg(t)  =  Jf(h(t)) Jh(t)  =  Jf(h(t)) (b − a),  also

∥ g′(t) ∥  =  ∥ Jf(h(t)) (b − a) ∥  ≤  ∥ Jf(h(t)) ∥ ∥ b − a ∥  ≤  L ∥ b − a ∥.

(Wir können den Definitionsbereich [ 0, 1 ] von h zu ] − ε, 1 + ε [ vergrößern, sodass wir die Kettenregel auch auf t = 0, 1 anwenden können.) Nach Voraussetzung ist g eine stetig differenzierbare Kurve, sodass

∥ f (b) − f (a) ∥  =  ∥ g(1) − g(0) ∥  ≤  L(g)  =  10 ∥ g′(t) ∥ dt  ≤  L ∥ b − a ∥.

 Statt der Überführung in eine Kurve können wir auch den Mittelwertsatz anwenden. Er liefert für alle 1 ≤ i ≤ m ein pi  ∈  P mit

|(f (b) − f (a))i|  =  |(Jfi(pi) (b − a))i|  ≤  ∥ Jf(pi) ∥ ∥ b − a ∥  ≤  L ∥ b − a ∥,

sodass ∥ f (b) − f (a) ∥ ≤ m L∥ b − a ∥. Dies zeigt die Lipschitz-Stetigkeit mit einer etwas größeren Konstanten.