Reelle und komplexe Fourier-Reihen
Wir stellen nun die Berechnungsformeln für die Koeffizienten an die Spitze. Der Ansatz ist wieder vergleichbar mit dem Versuch der Entwicklung einer Funktion in eine Potenzreihe: Wenn es geht, dann so.
Definition (Fourier-Koeffizienten und Fourier-Reihe einer Funktion)
Sei f : ℝ → ℝ 2π-periodisch und integrierbar auf [ 0, 2π ]. Dann heißen
ak = 1π ∫2π0f (x) cos(k x) dx für alle k ≥ 0 und
bk = 1π ∫2π0f (x) sin(k x) dx für alle k ≥ 1
die Fourier-Koeffizienten von f. Weiter heißt
FS(f)(x) = a02 + ∑k ≥ 1 (ak cos(k x) + bk sin(k x))
die Fourier-Reihe von f („FS“ für engl. „Fourier series“).
f (x) cos(x)
f (x) cos(2x)
f (x) cos(5x)
f (x) cos(10x)
Die große Frage lautet nun:
Unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form konvergiert
die Fourier-Reihe FS(f) einer 2π-periodischen Funktion f gegen f ?
Unsere bisherigen Überlegungen zeigen:
Korollar
Konvergiert FS(f) gleichmäßig gegen eine Funktion g, so sind FS(f) und FS(g) identisch, und damit konvergiert FS(g) gleichmäßig gegen g.
Beweis
Nach dem Berechnungssatz gelten die die Koeffizienten ak und bk von FS(f) definierenden Formeln, wenn wir statt f die Funktion g unter dem Integral einsetzen. Folglich haben FS(f) und FS(g) dieselben Koeffizienten.
Wir können hier nicht erwarten, dass g gleich f ist. Ist zum Beispiel f in genau einem Punkt von [ 0, 2π [ von 0 verschieden, so sind alle Koeffizienten ak und bk gleich 0, und damit konvergiert FS(f) gleichmäßig gegen die Nullfunktion. Allgemein gilt: Ist f nicht stetig, so kann FS(f) nicht gleichmäßig gegen f konvergieren, da die Grenzfunktion einer gleichmäßig konvergenten Reihe stetiger Funktionen stetig ist. Einige Fragen, die sich nun stellen, sind: Konvergiert FS(f) gleichmäßig oder wenigstens punktweise gegen f, wenn f stetig ist? Welches Konvergenzverhalten besitzt FS(f) an Unstetigkeitsstellen? Was gilt, wenn die Funktion f lediglich integrierbar ist? Bevor wir uns aber mit derartigen Konvergenzfragen beschäftigen, wollen wir noch eine andere Darstellung der trigonometrischen Reihen entwickeln, die nicht zuletzt auch große notationelle Vorteile mit sich bringt.
Einsatz der komplexen Exponentialfunktion
Den Kosinus und den Sinus hatten wir mit Hilfe der komplexen Exponentialfunktion eingeführt. Es liegt nun nahe, den Komfort und die mathematische Tiefe der komplexen Exponentialfunktion auch zur Darstellung und Untersuchung trigonometrischer Reihen zu nutzen. Dabei treten Reihen mit ganzzahligen Indizes auf. Wir vereinbaren hierzu:
Konvention
Eine Reihe ∑k ∈ ℤ zk komplexer Zahlen soll im Folgenden die Partialsummen ∑− n ≤ k ≤ n zk besitzen und im Fall der Existenz zudem den Grenzwert limn → ∞ ∑− n ≤ k ≤ n zk dieser Partialsummen bezeichnen.
Anders formuliert: Die Reihe ∑k ∈ ℤ zk basiert auf der Folge
z0, z1 + z−1, z2 + z−2, z3 + z− 3, …
Damit können wir nun die Übersetzung ins Komplexe durchführen.
Satz (komplexe Darstellung einer reellen Fourier-Reihe)
Für alle a, b ∈ ℝ gilt:
a cos(k x) + b sin(k x) = a − i b2 ei k x + a + i b2 e−i k x.
Ist also für gegebene (ak)k ≥ 0 und (bk)k ≥ 1
c0 = a02, ck = ak − i bk2, c− k = ck für alle k ≥ 1,
so gilt a02 + ∑k ≥ 1 (ak cos(k x) + bk sin(k x)) = ∑k ∈ ℤ ck ei k x.
Beweis
Die Formeln folgen wegen 1/i = −i aus
cos(k x) = Re(ei k x) = ei k x + e− i k x2, sin(k x) = Im(ei k x) = ei k x − e− i k x2i.
Wir nennen die Reihe ∑k ∈ ℤ ckei k x wie im Satz die komplexe Darstellung der reellen trigonometrischen Reihe mit den Koeffizienten ak und bk. Die Rückübersetzung ins Reelle erfolgt durch die Formeln
a0 = 2c0, ak = Re(2ck), bk = − Im(2ck) für alle k ≥ 1.
Die Berechnung der Koeffizienten ist in komplexer Form besonders übersichtlich. Hierzu verwenden wir das in 1. 1 schon kurz betrachtete Integral für komplexwertige Funktionen:
Definition (Integration komplexwertiger Funktionen)
Eine Funktion f : [ a, b ] → ℂ heißt integrierbar, falls die reellen Funktionen Re(f) : [ a, b ] → ℝ und Im(f) : [ a, b ] → ℝ dies sind. In diesem Fall heißt
I(f) = ∫baf = ∫baf (x) dx = ∫baRe(f) + i ∫baIm(f) ∈ ℂ
das Integral von f. Analog ist das unbestimmte Integral ∫f definiert.
Das Integral einer Funktion f : [ a, b ] → ℂ ist eine komplexe Zahl, der Definitionsbereich ist nach wie vor reell. Für unsere Ziele ist vor allem bedeutsam:
Beispiel
∫ei x dx = ∫cos(x) dx + i ∫sin(x) dx = −sin(x) + i cos(x) = − i ei x.
Das komplexwertige Integral ist linear. Weiter gilt:
Satz (Betragsabschätzung)
Sei f : [ a, b ] → ℂ integrierbar. Dann ist |f| : [ a, b ] → ℝ integrierbar und
| ∫baf | ≤ ∫ba|f|.
Zum Beweis verwenden wir die Cauchy-Schwarz-Ungleichung. Der Vollständigkeit halber beweisen wir sie hier elementar:
Satz (Cauchy-Schwarz-Ungleichung für ℂ)
Für alle v = (v1, v2), w = (w1, w2) ∈ ℂ gilt:
v1 w1 + v2 w2 ≤ |v| |w|. (Ungleichung von Cauchy-Schwarz)
Beweis
Wir dürfen annehmen an, dass |v| = |w| = 1 gilt und müssen zeigen, dass
(+) v1 w1 + v2 w2 ≤ 1.
Denn die Aussage ist klar, falls v = 0 oder w = 0 gilt, und der allgemeine Fall folgt aus (+) durch Übergang zu v/|v| und w/|w|. Nach der Ungleichung zwischen geometrischem und arithmetischem Mittel gilt
v1 w1 + v2 w2 ≤ + ≤ +
= + = |v|22 + |w|22 = 12 + 12 = 1.
Damit können wir nun die Betragsabschätzung beweisen.
Beweis des Satzes
Wegen |f| = ist |f| integrierbar. Wir setzen nun
c = I(Re(f)), d = I(Im(f)), s = |(c, d)| = = | ∫baf |.
Ist s = 0, so ist die Behauptung trivial. Sei also s > 0. Nach der Cauchy-Schwarz-Ungleichung, punktweise für
v = (c, d) und w = f (x) = (Re(f (x)), Im(f (x)))
angewendet, gilt nach Monotonie des reellen Integrals:
s2 = ∫bac Re(f)(x) + d Im(f)(x) dx ≤ ∫ba|(c, d)||f (x)| dx = s ∫ba|f (x)| dx.
Division durch s liefert die Behauptung.
Nach diesen Vorbereitungen zeigen wir nun:
Satz (Berechnungsformel für komplexe Fourier-Koeffizienten)
Sei f : ℝ → ℝ 2π-periodisch und integrierbar auf [ 0, 2π ], und sei ∑k ∈ ℤ ck ei k x die Fourier-Reihe von f in komplexer Darstellung. Dann gilt
ck = 12π ∫2π0f (x) e−i k x dx für alle k ∈ ℤ.
Beweis
Die Aussage ist klar für k = 0. Für k > 0 gilt
2πck = π(ak − i bk) = ∫2π0f (x) cos(k x) dx − i ∫2π0f (x) sin(k x) dx =
∫2π0Re(f (x) e− i k x) dx + i ∫2π0Im(f (x) e−i k x) dx = ∫2π0f (x) e−i k x dx.
Für k < 0 zeigt man die Aussage analog oder durch komplexe Konjugation der Aussage für k > 0.
Damit haben wir also die Funktionen cos(k x) und sin(k x) vollständig durch die einfacher zu handhabenden Funktionen ei k x, k ∈ ℤ, ersetzt. Eine natürliche Erweiterung des komplexen Ansatzes ist nun, auch komplexwertige 2π-periodische Funktionen f : ℝ → ℂ zu betrachten. Die Grundfunktionen ei k x sind ja bereits derartige Funktionen. Wir definieren also:
Definition (Fourier-Reihe einer komplexwertigen Funktion)
Sei f : ℝ → ℂ 2π-periodisch und integrierbar auf [ 0, 2π ]. Dann heißen die komplexen Zahlen
ck = 12 π ∫2π0f (x) e−i k x dx für alle k ∈ ℤ
die Fourier-Koeffizienten von f. Weiter heißt
FS(f)(x) = ∑k ∈ ℤ ck ei k x
die Fourier-Reihe von f. Wir setzen zudem für alle n:
FSn(f)(x) = ∑−n ≤ k ≤ n ck ei k x. (n-te Partialsumme von FS(f))
Für alle 2π-periodischen und auf [ 0, 2π ] integrierbaren f : ℝ → ℂ gilt
FS(f) = FS(Re(f)) + i FS(Im(f)),
sodass eine komplexe Fourier-Reihe aus zwei reellen Fourier-Reihen zusammengesetzt ist. Für komplexwertige f : ℝ → ℂ gilt im Allgemeinen jedoch nicht mehr, dass c− k = ck für alle k ∈ ℤ.
Die Orthogonalität lässt sich für komplexe Fourier-Reihen ebenso einfach formulieren wie beweisen:
Satz (Orthogonalität von ei k x)
Für alle k, n ∈ ℤ gilt:
12π ∫2π0ei n x e−i k x dx = δn, k.
Beweis
Für n = k ist ei n x e−i k x = ei 0 x = 1 und die Aussage klar. Für n ≠ k ist
ei n x e−i k x = ei m x mit m = n − k ≠ 0.
Damit gilt
∫2π0ei m x dx = = 1i m − 1i m = 0.
Speziell ist
12π ∫2π0ei n x dx = δn, 0.
Wir betrachten die Partialsummen der komplexen Fourier-Reihen noch etwas genauer. Hierzu definieren wir:
Definition (komplexes trigonometrisches Polynom)
Eine Funktion f : ℝ → ℂ der Form
f (x) = ∑−n ≤ k ≤ n ck ei k x für alle x ∈ ℝ
nennen wir ein komplexes trigonometrisches Polynom mit Koeffizienten ck ∈ ℂ.
Die Partialsummen einer komplexen Fourier-Reihe sind also komplexe trigonometrische Polynome. Komplexe trigonometrische Polynome (und allgemeiner komplexwertige 2π-periodische Funktionen) können wir visualisieren, indem wir
Bild(f) = Bild(f|[ 0, 2π [) ⊆ ℂ
zeichnen (in der Sprache der Kurven also die Spur von f betrachten). Die folgenden Diagramme geben einige Beispiele. Um den Verlauf der Kurven deutlicher zumachen, wurden die Funktionswerte
f(k π4) für k = 0, …, 7
mit den Ziffern k = 0, …, 7 markiert. Nicht angegebene ck sind gleich 0.
c0 = 5/2 + 2i, c1 = 3/2, c−1 = 1/2
c0 = 2 + 3/4i, c1 = c2 = i
c0 = 2 + i, c1 = c2 = c3 = c4 = i/2
c0 = 2 + i, ck = i/2k − 1 für k = 1, …, 4
c0 = 3 + 3/2i,
c± 1 = c± 3 = i, c± 2 = c± 4 = 1
c0 = 2 + 3i,
ck = ik − 1/k für k = 1, …, 8
Dirichlet-Kerne
Eine ausgezeichnete Fourier-Reihe erhalten wir, wenn wir alle Koeffizienten ck gleich 1 setzen (vgl. die geometrische Reihe bei den Potenzreihen). Die Partialsummen dieser Reihe haben einen eigenen Namen:
Definition (Dirichlet-Kern)
Für alle n ∈ ℕ heißt die Funktion Dn : ℝ → ℂ mit
Dn(x) = ∑−n ≤ k ≤ n ei k x für alle x ∈ ℝ
der n-te Dirichlet-Kern.
Nach den obigen Formeln gilt
∫2π0Dn(x) dx = ∑−n ≤ k ≤ n ∫2π0ei k x dx = ∫2π0ei 0 x dx = 2π für alle n.
Aus der Definition kann man ablesen, dass die Dirichlet-Kerne nur Werte in ℝ annehmen. Überraschender ist die folgende einfache Darstellung:
Satz (Sinusdarstellung der Dirichlet-Kerne)
Für alle n und alle x ∈ ℝ − { 2π a | a ∈ ℤ } gilt
Dn(x) = sin(n x + x/2)sin(x/2).
Weiter ist Dn(2πa) = 2n + 1 für alle a ∈ ℤ.
Beweis
Sei x ∈ ℝ − { 2π a | a ∈ ℤ }. Dann ist ei x ≠ 1 und damit gilt unter Verwendung der Formel für die endliche geometrische Reihe:
Dn(x) = ∑−n ≤ k ≤ n ei k x = e−i n x ∑0 ≤ k ≤ 2n ei k x =
e−i n x 1 − ei (2n + 1) x1 − ei x = e−i n x e−i x/2e−i x/2 ei (2n + 1) x − 1ei x − 1 =
ei (n + 1/2) x − e−i (n + 1/2) xei x/2 − e− i x/2 = sin(n x + x/2)sin(x/2).
Zudem gilt für alle a ∈ ℤ, dass
Dn(2πa) = ∑−n ≤ k ≤ n ei k 2π a = ∑− n ≤ k ≤ n 1 = 2n + 1.
Obwohl die Dirichlet-Kerne einer speziellen Fourier-Reihe entsprechen, können wir mit ihnen allgemeine Partialsummen darstellen:
Satz (Partialsummen und Dirichlet-Kerne)
Sei f : ℝ → ℂ 2π-periodisch und integrierbar auf [ 0, 2π ]. Dann gilt für alle n und x:
FSn(f)(x) | = 12π ∫2π0f (t) Dn(x − t) dt |
= 12π ∫2π0f(x − t) Dn(t) dt = 12π ∫2π0f(x + t) Dn(t) dt. |
Beweis
Sei n ∈ ℕ. Dann gilt für alle x ∈ ℝ:
FSn(f)(x) = ∑−n ≤ k ≤ n ck ei k x
= ∑− n ≤ k ≤ n 12π ∫2π0f (t) e − i k t dt ei k x
= 12π ∫2π0f (t) ∑−n ≤ k ≤ n ei k (x − t) dt
= 12π ∫2π0f (t) Dn(x − t) dt
= 12π ∫x − 2πx− f(x − y) Dn(y) dy
= 12π ∫2π0f(x − t) Dn(t) dt,
wobei wir im vorletzten Schritt die Substitution „t = s(y) = x − y“ verwenden und im letzten Schritt benutzen, dass der Integrand 2π‑periodisch ist.
Analog führt die Substitution „t = s(y) = x + y“ zusammen mit der Eigenschaft Dn(−t) = Dn(t) zum Term f(x + t) im Integranden.