Der Konvergenzsatz von Dirichlet

 Wir beweisen nun erste Konvergenzsätze für Fourier-Reihen. Dabei beschränken wir uns zunächst auf Funktionen mit guten Differenzierbarkeitseigenschaften. Den größeren Bereich der integrierbaren Funktionen untersuchen wir später mit anderen Methoden.

 Warum sollten wir überhaupt hoffen, dass die Fourier-Reihe von f in irgendeiner Weise gegen ein g konvergiert? Der folgende Satz gibt einen Hinweis.

Satz (Lemma von Riemann)

Sei f : [ a, b ]   integrierbar. Dann gilt

limλ  ∞ baf (x) sin(λx) dx =  limλ  ∞ baf (x) cos(λx) dx
=  limλ  ∞ baf (x) eiλx dx  =  0.

Das Gleiche gilt für „λ  −∞“.

 Bevor wir den Satz beweisen, versuchen wir eine Anschauung über seine Gültigkeit zu erlangen. Die Funktionen sin(λx) sind für sehr große λ hochfrequent, auf einen Sinusberg folgt sofort ein Sinustal. Ist nun f in einem solchen Berg-Tal-Intervall vergleichsweise träge, so sind die Flächen des Produkts von f mit dem Sinusberg und des Produkts von f mit dem Sinustal dem Betrag nach ungefähr gleich groß, dabei aber unterschiedlich signiert. Das Intervall trägt also nur sehr wenig zum Integral bei. Damit sind beliebig kleine Integrale für hinreichend große Frequenzen zu erwarten.

Beweis

Wir zeigen die erste Aussage über den Sinus. Die anderen Aussagen werden analog bewiesen.

Zunächst zeigen wir die Behauptung für Treppenfunktionen. Sei also (tk)k ≤ n eine Partition von [ a, b ] und seien ck  ∈   mit g(x) = ck für alle x  ∈  ] tk, tk + 1 [ und alle k ≤ n. Dann gilt für alle λ > 0, dass

| bag(x) sin(λ x) dx |   =  | k ≤ n ck tk+1tksin(λ x) dx |

 =  | k ≤ nckλ (cos(λ tk + 1) − cos(λ tk)) |  ≤  2λ| k ≤ n ck |.

Die rechte Seite konvergiert gegen Null, wenn λ gegen unendlich strebt.

Sei nun f eine beliebige integrierbare Funktion, und sei ε > 0. Dann existiert eine Treppenfunktion g ≤ f mit

ba(f − g)  <  ε/2.

Dann ist aber, für alle hinreichend großen λ,

| baf (x) sin(λx) dx |  =  | ba(f (x) − g(x)) sin(λx) dx + bag(x) sin(λx) dx |

 ≤  ba(f − g)  +  | bag(x) sin(λx) dx |  ≤  ε/2 + ε/2  =  ε.

 Nach Definition der Fourier-Koeffizienten gilt also:

Korollar (Nullfolgensatz für Fourier-Koeffizienten)

Sei f :    2π-periodisch und integrierbar auf [ 0, 2π ], und sei FS(f) = k  ∈   ck eikx. Dann gilt lim ∞ ck = lim −∞ ck = 0.

 Die Fourier-Koeffizienten bilden also eine Nullfolge. Könnten wir nun noch stärker zeigen, dass k  ∈   |ck| < ∞, so würde FS(f) nach dem Konvergenzkriterium von Weierstraß absolut und gleichmäßig gegen eine Funktion g konvergieren, denn dann wäre

k  ∈   supx  ∈  [ 0, 2π ]|ckeikx|  ≤  k  ∈  |ck|  <  ∞.

Die Sache ist aber komplizierter − und spannender. Es gibt, was nicht leicht zu zeigen ist, sogar stetige Funktionen f mit k |ck| = ∞. Wir werden aber sehen, dass der Ansatz über das Konvergenzkriterium von Weierstraß in wichtigen Fällen tatsächlich durchführbar ist.

 Mit dem Lemma von Riemann und unserer früheren Analyse der Dirichlet-Kerne haben wir alle Hilfsmittel zusammengetragen, um einen ersten Konvergenzsatz für Fourier-Reihen beweisen zu können. Der Übersichtlichkeit halber führen wir hierzu noch einige Notationen für links- und rechtsseitige Grenzwerte ein.

Definition (die Werte f (x+), f (x−), f (x±), f ′(x+), f ′(x−))

Für eine Funktion f :    setzen wir im Fall der Existenz:

f (x+)  =  lim 0 f(x + h),  f (x−)  =  lim 0 f(x + h),

f (x±)  =  f (x+) + f (x−)2,

f ′(x+)  =  limh  0 f (x + h) − f (x+)h,  f ′(x−)  =  limh  0 f (x + h) − f (x−)h.

 Ist f 2π-periodisch und f|[ 0, 2π ] eine Regelfunktion, so existieren f (x+) und f (x−) für alle x. Ist f stetig in x, so gilt f (x+) = f (x−) = f (x±). Ist f stückweise stetig und unstetig an der Stelle x, so ist f (x±) das arithmetische Mittel der links- und rechtsseitigen Grenzwerte von f an der Stelle x. Der tatsächliche Funktionswert f (x) spielt bei der Definition von f (x±) keine Rolle. Der Leser beachte weiter, dass bei der Definition der einseitigen Ableitungen f ′(x+) und f ′(x−) nicht der Wert f (x) im Zähler verwendet wird, sondern die entsprechenden links- und rechtsseitigen Grenzwerte f (x+) und f (x−). Damit können diese Ableitungen auch an Unstetigkeitsstellen existieren.

 Wir zeigen nun den folgenden starken Satz:

Satz (Konvergenzsatz von Dirichlet)

Sei f :    2π-periodisch und integrierbar auf [ 0, 2π ]. Sei x  ∈   derart, dass f (x−), f (x+), f ′(x+) und f ′(x−) existieren. Dann gilt FS(f)(x) = f (x±).

Beweis

Für alle n gilt nach dem Satz über die Berechnung von FSn(f)(x):

FSn(f)(x)  =  10−πf(x + t) Dn(t) dt  +  1π0f(x + t) Dn(t) dt.

Die Dirichlet-Kerne Dn sind gerade Funktionen, weswegen

0−πDn(x) dx  =  π0Dn(x) dx  =  12 0Dn(x) dx  =  π.

Damit ist

f (x±)  =  10−πf (x−) Dn(t) dt  +  1π0f (x+) Dn(t) dt.

Diese Integraldarstellungen von FSn(f)(x) und f (x±) zeigen, dass

|FSn(f)(x) − f (x±)|  =  | 0−π(f (x + t) − f (x−)) Dn(t) dt  +  π0(f (x + t) − f (x+)) Dn(t) dt |.

Wir setzen nun die Sinus-Formeln für Dn(t) ein und wälzen deren Nenner sin(t/2) auf die f-Differenzen ab. Die Differenzierbarkeitseigenschaften von f, die wir bisher nicht verwendet haben, eliminieren dabei die Polstellen dieser Nenner an der oberen bzw. unteren Integrationsgrenze t = 0.

Wir definieren also g1 : [ − π, 0 ]   und g2 : [ 0, π ]   durch

g1(t)  =  f (x + t) − f (x−)sin(t/2)  =  f (x + t) − f (x−)ttsin(t/2)  für t  ∈  [ − π, 0 [, 

g2(t)  =  f (x + t) − f (x+)sin(t/2)  =  f (x + t) − f (x+)ttsin(t/2)  für t  ∈  ] 0, π ], 

g1(0)  =  2 f ′(x−),  g2(0)  =  2 f ′(x+).

Da f ′(x−) und f ′(x+) existieren, sind g1 und g2 beschränkt und damit integrierbar. (Wegen lim 0 t/sin(t/2) = 2 gilt lim 0 g1(t) = g1(0) und lim 0 g2(t) = g2(0), was wir nicht brauchen.) Obige Berechnung lautet nun

|FSn(f)(x)  −  f (x±)|  =  | 0−π g1(t) sin((n + 1/2)t) dt  +  π0 g2(t) sin((n + 1/2)t) dt |.

Nach dem Lemma von Riemann strebt die rechte Seite gegen Null, sodass

FS(f)(x)  =  limn FSn(f)(x)  =  f (x±).

 Im Beweis brauchen wir de facto nur die Beschränktheit der links- und rechtsseitigen Differenzenquotienten von f an der Stelle x und nicht die Existenz der entsprechenden Differentialquotienten. Die Voraussetzung des Satzes ist aber für viele konkrete Funktionen sogar in einer viel stärkeren Form erfüllt. Wir definieren bzw. erinnern an:

Definition (stückweise differenzierbar)

Eine Funktion f : [ a, b ]   heißt stückweise (stetig) differenzierbar, falls eine Partition p = (tk)k ≤ n von [ a, b ] existiert, sodass für alle k ≤ n gilt:

f|] tk, tk + 1 [ besitzt eine (stetig) differenzierbare Fortsetzung nach [ tk, tk + 1 ].

Weiter heißt ein 2π-periodisches f :    stückweise stetig differenzierbar, falls f|[ 0, 2π ] stückweise stetig differenzierbar ist.

 Die Differenzierbarkeitsbegriffe für komplexwertige Funktionen mit reellem Definitionsbereich werden dabei wie im Reellen definiert. Man kann f ′(p)  ∈   über die Existenz des Differentialquotienten f ′(p) = lim p (f (x) − f (p))/(x − p) oder gleichwertig durch f ′(p) = Re(f)′(p) + i Im(f)′(p) definieren, in Analogie zum Integral für komplexwertige Funktionen (vgl. hierzu auch 4. 2 in Band 1).

 Jede stückweise stetig differenzierbare Funktion f ist stückweise stetig. Die Kombination „stetig und stückweise differenzierbar“ entspricht anschaulich der Eigenschaft „stetig mit endlich vielen Knicken“.

 Aus dem Satz von Dirichlet folgt nun unmittelbar:

Korollar (Konvergenzsatz für stückweise differenzierbare Funktionen)

Sei f :    2π-periodisch und auf [ 0, 2π ] stückweise differenzierbar. Dann gilt FS(f)(x) = f (x±) für alle x. Ist also f stetig und stückweise differenzierbar, so konvergiert FS(f) punktweise gegen f.