Die ortsabhängige Beschleunigung in einer Dimension
Die Differentialgleichung zweiter Ordnung
••x(t) = F(x(t))
beschreibt einen Massepunkt der Masse m = 1, der sich in einer räumlichen Dimension x in der Zeit t unter dem Einfluss einer Kraft F(x) bewegt, die vom Ort x(t), nicht aber von der Zeit t und der Geschwindigkeit •x(t) abhängt. Der ungedämpfte harmonische Oszillator ist ein Beispiel. Oben hatten wir die Differentialgleichung bereits in der Form y″ = φ(y) untersucht. Das erzielte Ergebnis wollen wir nun physikalisch interpretieren:
Satz (Lösungen von ••x(t) = F(x(t)))
Seien J ein Intervall, F : J → ℝ stetig, x0 ∈ J und V : J → ℝ mit
V(x) = − ∫xx0F(u) du für alle x ∈ J. (Potential von F mit V(x0) = 0)
Weiter sei E (Gesamtenergie) derart, dass V(x) < E für alle x ∈ J. Für ein bestimmtes Vorzeichen (Geschwindigkeitsrichtung) sei T : J → ℝ definiert durch
T(x) = ± ∫xx0 für alle x ∈ J. (Zeitmessung)
Ist nun I ein Intervall und t0 ∈ I mit t − t0 ∈ T[ J ] für alle t ∈ I, so haben die äquivalenten AWP
(I) | •x(t) = ± , x(t0) = x0 |
(II) | ••x(t) = F(x(t)), x(t0) = x0, •x(t0) = v0 = ± |
die eindeutige Lösung x : I → ℝ mit
x(t) = T−1(t − t0) für alle x ∈ I. (Ortsfunktion)
Für alle t ∈ I gilt
E = Ekin(t) + Epot(t) = •x2/2 + V(x(t)). (Energieerhaltung)
Alle mathematischen Objekte unserer Analyse besitzen also eine physikalische Bedeutung. Speziell ist
t0 die Startzeit, x0 der Startort, v0 die Startgeschwindigkeit.
J ist ein Orts- und I ein Zeitintervall. Wegen x(t) = T−1(t − t0) ist
T(x(t)) = T(x(t)) − T(x0) = t − t0,
sodass T(x) die Zeit ist, die der Massepunkt benötigt, um sich von x0 nach x zu bewegen. Direkter kann man „Zeit ist Weg durch Geschwindigkeit“ verwenden:
dt = = ±
Integrieren auf beiden Seiten liefert die Interpretation von T(x).
Bemerkenswert ist, dass die Zeitmessung als Vorstufe der Ortsbestimmung erscheint. Wir berechnen zunächst T(x) und gewinnen hieraus x(t).
Die Energieerhaltung ist äquivalent zu (I). Setzt man sie als bekannt voraus, so kann man direkt mit dem AWP (I) beginnen, die Reduktion eines Problems zweiter Ordnung ist dann nicht mehr notwendig (bzw. bereits durchgeführt). Mit Hilfe von (I) können wir die Frage „Welche Geschwindigkeit hat der Massepunkt, wenn er sich am Ort x befindet?“ beantworten, ohne die Ortsfunktion x(t) zu kennen. Diese Geschwindigkeiten sind von Beginn an bekannt.
Aus der Energieerhaltung folgt V(x(t)) ≤ E für alle Zeiten t. Ist E = V(x(t)), so gilt •x(t) = 0, d. h., der Massepunkt steht zur Zeit t still. Im Satz ist E = V(x) ausgeschlossen, um Nullstellen des Nenners im Zeitintegral T(x) zu vermeiden. Um Ruhepunkte zu behandeln, erweitern wir das Ergebnis:
Satz (Lösungen von ••x(t) = F(x(t)), Ergänzung)
In der obigen Situation sei x* ∈ ℝ ein Randpunkt von J und E = V(x*). Weiter sei t* = T(x*) ∈ ℝ = ℝ ∪ { −∞, ∞ } wie oben als uneigentliches Integral definieren. Dann gilt:
(a) | Ist t* endlich, so lässt sich die Lösung x(t) durch x(t*) = x* zu einer Lösung auf I ∪ { t* } fortsetzen. |
(b) | Gilt V′(x*) ≠ 0, so ist t* endlich. |
(c) | Ist V′(x*) = 0 und F lokal Lipschitz-stetig in x*, so ist t* unendlich. |
Beweis
zu (a): Die Lösung durch „Trennung der Variablen“ bleibt für derartige Randpunkte richtig. (T(x) ist in x* aufgrund der dortigen unendlichen Steigung nicht differenzierbar, aber die Umkehrfunktion x(t) ist in t* differenzierbar mit Ableitung 0 = 1/∞.)
zu (b): Wir nehmen an, dass x* der rechte Randpunkt von J ist. Dann ist V′(x*) > 0. Da V′ = − F stetig ist, gibt es ein a < x*, sodass V′ in [ a, x* ] monoton wächst und damit invertierbar ist. Weiter können wir annehmen, dass − V′(x) = F(x) ≥ m > 0 für alle x ∈ [ a, x* ]. Dann zeigt die Substitution u = E − V(s), du = F(s) ds, dass
∫x*a ≤ ∫0E − V(a) < ∞.
Hieraus folgt T(x*) < ∞. Ein linker Randpunkt wird analog behandelt.
zu (c): Andernfalls wären die nach t* fortgesetzte Funktion x(t) und die konstante Funktion xconst(t) = x* zwei verschiedene Lösungen von
••x(t) = F(x), x(t*) = x*, •x(t*) = 0
auf I ∪ { t* } was dem Eindeutigkeitssatz widerspricht.
Dass t* endlich und damit die Eindeutigkeit der Lösung verletzt sein kann, wenn F nicht lokal Lipschitz-stetig in einem Ruhepunkt x* ist, zeigt:
Beispiel
Für F(x) = sgn(x) 3/2 , x0 = 1, t0 = 0, E = 1, v0 = − gilt
V(x) = 1 − |x|3/2, V(0) = 1 = E,
T(0) = − ∫01
= ∫10s−3/4 ds = 2 .
Wir betrachten drei typische Fälle.
Erster Fall
Der Massepunkt startet bei x0 zur Zeit t0 mit der Geschwindigkeit v0. Das Potential V ist in x0 auf 0 normiert. Ist die Energie E in allen Punkten größer als V(x), so liefert der Satz eine globale Lösung x : ℝ → ℝ. Zeiten kleiner als t0 beschreiben die Vergangenheit, Zeiten größer als t0 die Zukunft. In Regionen mit großem Potential bewegt sich der Massepunkt langsamer, seine Beschleunigung ist durch die negative Ableitung von V gegeben. Die Dynamik ist qualitativ vergleichbar mit einer unter der Schwerkraft auf dem Graphen von V rollenden Kugel. Im allgemeinen hat aber F nichts mit einer Schwerkraft zu tun und die Bewegung ist eine eindimensionale Bewegung auf der x-Achse, nicht auf V.
Zweiter Fall
Im zweiten Diagramm gibt es zwei Ruhepunkte a und b, in denen der Massepunkt stillsteht. Der Satz liefert eine bijektive Lösung auf einem Zeitintervall I = ] tmin, tmax [ mit Werten in J = ] a, b [. Wegen V′(a), V′(b) ≠ 0 sind tmin, tmax endlich und wir können die Lösung nach [ tmin, tmax ] fortsetzen. Ist v0 > 0, so ist x(tmax) = b und x(tmin) = a, andernfalls ist x(tmax) = a und x(tmin) = b. Eine Lösung auf ℝ erhalten wir, indem wir mit Hilfe der Lösung auf [ tmin, tmax ] eine Schwingung konstruieren, bei der der Massepunkt zwischen a und b hin und her läuft. An den Ruhepunkten wechselt die Geschwindigkeit das Vorzeichen. Die Schwingungsdauer ist gegeben durch das uneigentliche Integral
T = 2 (tmax − tmin) = 2 ∫ba (Schwingungsdauer)
Dritter Fall
Nun ist V′(b) = 0 im Ruhepunkt b. Ist v0 > 0 und F lokal Lipschitz-stetig in b, so läuft das Teilchen in unendlich langer Zeit von x0 nach b, ohne den Punkt b jemals zu erreichen. Obiges Beispiel zeigt, dass bei Verletzung der Lipschitz-Stetigkeit der Punkt b auch in endlicher Zeit erreicht werden kann. In diesem Fall verzweigen sich die Lösungen. Ein Liegenbleiben bei b ist ebenso möglich wie ein Zurücklaufen nach a oder ein Weiterlaufen bis zum nächsten Ruhepunkt.