Differentialgleichungen und Anfangswertprobleme
Wir präzisieren nun die Problemstellung. Dabei betrachten wir zunächst nur reell- oder komplexwertige Funktionen. Später werden wir auch vektorwertige Funktionen zulassen.
Definition (Differentialgleichung erster Ordnung)
Für P ⊆ ℝ2 und eine stetige Funktion φ : P → ℝ nennt man den Ausdruck
y′ = φ(x, y)
eine (gewöhnliche reelle) Differentialgleichung erster Ordnung. Eine Lösung der Differentialgleichung y′ = φ(x, y) ist eine auf einem reellen nichttrivialen Intervall I definierte Funktion f : I → ℝ mit der Eigenschaft:
f ′(x) = φ(x, f (x)) für alle x ∈ I.
Ist f : I → ℝ eine Lösung, so ist φ(x, f (x)) für alle x ∈ I definiert. Der Graph der Lösung ist also eine Teilmenge des Definitionsbereichs P von φ. Ist etwa P ein Rechteck [ a, b ] × [ c, d ], so haben Lösungen die Form f : I → [ c, d ]. Man strebt natürlich I = [ a, b ] an, wir werden aber sehen, dass Lösungen nicht immer auf [ a, b ] definiert werden können.
In analoger Weise werden komplexwertige Differentialgleichungen definiert. Die Funktion φ ist hier von der Form φ : P → ℂ, P ⊆ ℝ × ℂ. Lösungen haben nun die Form f : I → ℂ, wobei I nach wie vor ein reelles Intervall ist.
Der Zusatz „erster Ordnung“ zeigt an, dass nur erste Ableitungen im Spiel sind. Allgemeiner kann man Differentialgleichungen höherer Ordnung betrachten, bei denen Ableitungen y′, y″, y(3), …, y(n) auftauchen können:
Definition (Differentialgleichung höherer Ordnung)
Für n ≥ 1, P ⊆ ℝ × ℝn und ein stetiges φ : P → ℝ nennt man den Ausdruck
y(n) = φ(x, y, y′, y″, …, y(n − 1))
eine (gewöhnliche reelle) Differentialgleichung n-ter Ordnung. Eine Lösung dieser Differentialgleichung ist eine Funktion f : I → ℝ mit
f (n)(x) = φ(x, f (x), f ′(x), …, f (n − 1)(x)) für alle x ∈ I.
Die Bezeichnung „gewöhnlich“ bedeutet, dass unsere Lösungen nur von einer Variablen x abhängen. Allgemeiner kann man partielle Differentialgleichungen betrachten, bei denen Ableitungen ∂1, …, ∂n involviert sind.
Die Differentialgleichung „y′ = y“ wird auf ganz ℝ genau durch f : ℝ → ℝ mit f (x) = c ex, c ∈ ℝ beliebig, gelöst. Erst durch eine Forderung wie „y(0) = 1“ wird die Lösung eindeutig. Differentialgleichungen mit derartigen Zusatzbedingungen nennt man Anfangswertprobleme:
Definition (Anfangswertproblem)
Ein Anfangswertproblem (kurz AWP) erster Ordnung hat die Form
y′ = φ(x, y), y(x0) = y0.
Eine Lösung ist eine Lösung f : I → ℝ von y′ = φ(x, y) mit f (x0) = y0.
Analog hat ein Anfangswertproblem n-ter Ordnung die Form
y(n) = φ(x, y, y′, …, y(n − 1)), y(x0) = y0, y′(x0) = y1, …, y(n − 1)(x0) = yn − 1,
und eine Lösung dieses AWP ist eine Lösung der Differentialgleichung mit
f (x0) = y0, f ′(x0) = y1, …, f (n − 1)(x0) = yn − 1.
Bei einem Anfangswertproblem ist (x0, y0, …, yn − 1) ein Element des Definitionsbereichs von φ und für Lösungen f : I → ℝ muss insbesondere x0 ∈ I gelten.
Natürliche Fragen sind nun:
Unter welchen Bedingungen existiert eine Lösung? Wann ist eine Lösung eindeutig bestimmt? Wie findet man eine Lösung? Welche globalen Eigenschaften haben die Lösungen der Differentialgleichung?
Bevor wir einigen dieser Fragen nachgehen, betrachten wir:
Physikalische Motivation
Differentialgleichungen sind uns aufgrund des Newtonschen Gesetzes
„Kraft = Masse mal Beschleunigung“
seit der Schule bekannt. Wir betrachten einen Massepunkt der Masse m, der sich zur Zeit t ∈ ℝ am Ort x(t) ∈ ℝ3 befindet (Teilchen, Schwerpunkt eines Körpers). Auf den Massepunkt wirkt ein Kraftvektor F, der von der Zeit t ∈ ℝ, dem Ort x(t) ∈ ℝ3 und der Geschwindigkeit v(t) = •x(t) ∈ ℝ3 des Massepunkts abhängt. Befindet sich der Massepunkt zur Zeit t0 am Ort x0 ∈ ℝ3 mit der Geschwindigkeit v0 ∈ ℝ3, so erfüllt die Ortskurve x(t) die Differentialgleichung
m ••x(t) = F(t, x(t), •x(t))
und zudem die Anfangswertbedingung
x(t0) = x0, •x(t0) = v0.
Dabei verwenden wir wie in diesem Kontext üblich die Newtonsche Punktnotation für die erste und zweite Zeitableitung •x(t) bzw. ••x(t) der Ortskurve.
Die Aufgabe besteht darin, eine Funktion x(t) mit x(t0) = x0 und •x(t) = v0 zu finden, deren mit der Masse m multiplizierte zweite Zeitableitung für alle t der Vektor F(t, x(t), •x(t)) ist. Hat man x(t) gefunden, so kann man vorhersagen, wie sich das Teilchen in Zukunft bewegen wird, und zurückverfolgen, wie sich das Teilchen in der Vergangenheit bewegt hat. Wir kommen auf diese „dynamische Interpretation“ einer Differentialgleichung später noch einmal zurück.