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Die Sektorformel von Leibniz
Das Integral einer Funktion f : [ a, b ] → ℝ haben wir geometrisch als die signierte Fläche zwischen dem Graphen von f und der x-Achse interpretiert. Lesen wir das Definitionsintervall [ a, b ] von f als Zeitintervall, so überstreichen die senkrechten Geradenstücke von (t, 0) nach (t, f (t)) in der Zeit t ∈ [ a, b ] eine Fläche mit dem signierten Inhalt
I(f) = ∫baf (t) dt.
Ist nun f : [ a, b ] → ℝ2 eine Kurve, so können wir die Fläche betrachten, die durch die Geradenstücke von 0 ∈ ℝ2 nach f (t) ∈ ℝ2 im Zeitintervall [ a, b ] überstrichen wird. Diese Fläche ist signiert, wenn wir eine Umlaufrichtung gegen den Uhrzeigersinn als positiv betrachten und eine Umlaufrichtung im Uhrzeigersinn als negativ. Den signierten Inhalt dieser Fläche bezeichnen wir mit A(f).
Ergänzungsübung 1
Zeichnen Sie Diagramme zur Illustration der „überstrichenen signierten Fläche“ einer Kurve f : [ a, b ] → ℝ2.
Ergänzungsübung 2
Sei f : [ a, b ] → ℝ2. Definieren Sie A(f) in Analogie zur Definition von L(f).
[ Verwenden Sie Polygonzüge wie für L(f) und den signierten Flächeninhalt A(D) eines Dreiecks D mit den Ecken (0, 0), (a1, a2), (b1, b2). ]
Überstrichene Flächen einer ebenen Kurve lassen sich mit der folgenden Formel berechnen:
Satz (Sektorformel von Leibniz)
Sei f : [ a, b ] → ℝ2 eine stetig differenzierbare Kurve. Dann gilt:
A(f) = 12 ∫baf1(t) f2′(t) − f2(t) f1′(t) dt.
Ergänzungsübung 3
Geben Sie eine durch Diagramme unterstützte anschauliche Begründung der Sektorformel.
[ Verwenden Sie Approximationen an A(f) durch signierte Dreiecke und verwenden Sie elementare geometrische Eigenschaften der Determinante einer (2 × 2)-Matrix. ]
Für „verbeulte Kreise“ in der Ebene wird die Sektorformel besonders einfach:
Satz (Sektorformel von Leibniz für Kurven in Polarkoordinaten)
Sei f : [ 0, 2π ] → ℝ2 eine stetig differenzierbare Kurve in Polarkoordinaten, d. h., es gebe eine stetig differenzierbare Funktion r : [ 0, 2π ] → [ 0, ∞ [ mit
f (t) = r(t) ei t = r(t) (cos(t), sin(t)) für alle t ∈ [ 0, 2π ].
Dann gilt für alle [ a, b ] mit 0 ≤ a ≤ b ≤ 2π:
A(f|[ a, b ]) = 12 ∫bar(t)2 dt.
Überstrichene Fläche der Kurve f (t) = exp(sin(4 t)) ei t für alle t ∈ [ 0, 2π ]
Ergänzungsübung 4
Beweisen Sie die zweite Sektorformel mit der ersten.
Mit den Sektorformeln können wir viele alte und neue Flächen der Ebene elegant berechnen:
Ergänzungsübung 5
Sei r > 0. Berechnen Sie die Fläche des Kreises
K = { (x, y) ∈ ℝ2 | x2 + y2 ≤ r2 }
mit Hilfe einer der Sektorformeln.
Ergänzungsübung 6
Berechnen Sie den Flächeninhalt einer Ellipse mit den Halbachsen a und b mit Hilfe der Kurve f : [ a, b ] → ℝ2, f (t) = (a cos(t), b sin(t)), und der ersten Sektorformel. Ist die auch die zweite Sektorformel geeignet?
Ergänzungsübung 7
Sei f : [ 0, 2π ] → ℝ2 definiert durch
f (t) = (1 − cos(t)) ei t = (1 − cos(t)) (cos(t), sin(t)) für alle t ∈ [ 0, 2π ].
Skizzieren Sie f. Analysieren Sie dabei besonders das Verhalten von f zu den Zeiten 0 und π. Berechnen Sie weiter A(f).
Die vom Fahrstrahl von 0 nach f (t) einer Kurve f überstrichene Fläche spielt eine prominente Rolle in den Planetenbewegungen. Das zweite Keplersche Gesetz, der sog. Flächensatz, lautet:
Zweites Keplersches Gesetz
Der Fahrstrahl, der von der Sonne zu einem Planeten führt, überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen.