Die Lösung des Kreispendels

 Mit Hilfe elliptischer Integrale konnten wir die Schwingungsdauer T(α) eines Kreispendels der Länge  mit maximaler Auslenkung α  ∈ ] 0, π [ angeben. Mit Hilfe elliptischer Funktionen können wir nun das Kreispendel analytisch lösen. Dabei beschränken wir uns nicht nur auf Schwingungen, sondern lassen auch Überschläge und den Sonderfall einer Annäherung an π zu. Wir betrachten also, für ein beliebiges w0 > 0 und v0 := w0  eine Funktion φ :    mit

(#)   ••φ(t)  =  − g sin(φ(t)),  φ(0)  =  0,  φ(0)  =  w0.

Die Größe φ(t) ist die Auslenkung zur Zeit t. Der Punkt (0, − ) entspricht dem Winkel φ(t) = 0. Das Pendel startet dort mit der Winkelgeschwindigkeit w0 nach rechts. Die Tangentialgeschwindigkeit ist zu jedem Zeitpunkt das -fache der Winkelgeschwindigkeit φ(t).

 Im Folgenden werden wir φ identifizieren. Dadurch wird sich ergeben, dass eine Funktion mit (#) eindeutig existiert. Alternativ kann man hierzu auch den Satz von Picard-Lindelöf heranziehen.

 Mit ω2 = g/ gilt für alle t (vgl. Kapitel 5):

φ̇(t)2φ̇(0)22  =  t0••φ(s) φ(s) ds  =  t0−ω2 sin(φ(s)) φ(s) ds  =  ω2(cos(φ(t)) − 1).

Mit 2sin2(α/2) = 1 − cos(α) ergibt sich

(+)  φ(t)2  =  w20  −  2ω2(1 − cos(φ(t)))  =  w20(1  −  κ2sin2(φ(t)/2)),  mit κ  =  2ω/w0.

Wir unterscheiden drei Fälle.

Erster Fall

Annahme:  κ < 1,  Modul k :=  κ  ∈  ] 0, 1 [

Wegen w0 > 0 und φ(t) ≠ 0 nach (+) ist φ(t) > 0 für alle t. Damit können wir in (+) die Wurzel mit positivem Vorzeichen ziehen. Dies liefert

w0t =  t0φ̇(s)ds1k2sin2(φ(s)/2)
=  2 φ(t)/20dψ1k2sin2(ψ)  =  2 F(φ(t)/2),   sodass

F(φ(t)/2)  =  w0t/2,  und damit

φ(t)  =  2 am(w0t/2)  =  2 am(ωt/k). (Lösung im ersten Fall)

Als Jacobi-Amplitude ist φ(t) streng monoton steigend. Das Pendel schlägt über. Die für einen Looping benötigte Zeit ist

T  =  2kKω  =  4Kw0  =  4Kv0,  mit  K  =  K(k).

Die Gestalt von φ lässt sich auch durch Experimentieren mit den Ableitungen der elliptischen Funktionen finden. Denn für alle k  ∈  ] 0, 1 [ und c  ∈   gilt nach der Verdopplungsformel für den Sinus und der zweiten Ableitung der Jacobi-Amplitude:

sin(2 am(ct))  =  2 sin(am(ct)) cos(am(ct))  =  2 sn(ct) cn(ct),

2am″(ct)  =  2 c dn′(ct)  =  −2 k2 c2 sn(ct) cn(ct).

Für c = ω/k erfüllt die Funktion φ(t) = 2am(ct) also wie gewünscht

••φ(t)  =  − ω2 sin(φ(t)),  φ(0)  =  0.

Nun kann k so eingestellt werden, dass die vorgegebene Startgeschwindigkeit stimmt:

w0  =  φ(0)  =  2 ω/k dn(0)  =  2ω/k,

wobei 2ω/w0 < 1 sein muss, damit k < 1.

Diese Überlegung verifiziert auch, dass wir eine Lösung gefunden haben.

Zweiter Fall

Annahme:  κ > 1,  Modul k :=  1/κ  ∈  ] 0, 1 [

Sei t* > 0 mit φ(t) > 0 für alle t  ∈  ] −t*, t* [. Dann gilt für alle t  ∈  ] − t*, t* [

w0t =  t0φ̇(s)ds1κ2sin2(φ(s)/2)   (mit sin(ψ) = κ sin(φ(s)/2))
=  arcsin(κ sin(φ(t)/2))0 2kdψ1k2sin2(ψ)
=  2k F(arcsin(κ sin(φ(t)/2))),   sodass

ωt  =  F(arcsin(κ sin(φ(t)/2))),  am(ωt)  =  arcsin(κ sin(φ(t)/2)),

sn(ωt)  =  κ sin(φ(t)/2),  und schließlich

φ(t)  =  2 arcsin(k sn(ωt)). (Lösung im zweiten Fall)

Dies löst das Pendel sogar für alle t  ∈  , da

φ(t)  =  2kωcn(ωt)dn(ωt)1k2sn2(ωt)  =  2kωcn(ωt),

••φ(t)  =  −2kω2 sn(ωt) dn(ωt),

sin(φ(t))  =  2 sin(arcsin(ksn(ωt))) cos(arcsin(ksn(ωt)))  =  2k2sn(ωt) dn(ωt).

Das Pendel schwingt also mit der Schwingungsdauer

T  =  4K/ω,  wobei  K  =  K(k),  k  =  1/κ  =  w0/(2ω).

Die größte Auslenkung α wird zur Zeit T/4 = K/ω erreicht. Es gilt aber φ(K/ω) = 2 arcsin(k), sodass k = sin(α/2). Damit haben wir die Formel aus Beispiel III für Anwendungen der elliptischen Integrale reproduziert.

Man kann durch analytische Überlegungen die Struktur der Lösung vorab klären: Wegen κ > 1 gibt es ein ε > 0 mit |φ(t)| < π − ε für alle t (sonst wäre die rechte Seite in (+) für gewisse t negativ). Ist φ(t*) = 0, so wechselt φ in t* das Vorzeichen (da dann φ(t*) ≠ 0 nach (+), also ••φ(t*) ≠ 0 wegen |φ(t*)| < π und ••φ(t*) = − ω sin(φ(t*))); genauer hat φ in t* ein lokales Maximum, falls φ(t*) > 0, und ein lokales Minimum, falls φ(t*) < 0. Aus (+) folgt, dass φ(t) = 0 genau dann gilt, wenn sin(φ(t)/2) = ± k. Derartige Nullstellen existieren, da sich φ wegen |••φ(t)| ≥ |ω sin(π − ε)| nicht monoton der 0 annähern kann, ohne sie zu erreichen. Damit existiert eine kleinste positive Nullstelle von t* von φ, und es gilt sin(α/2) = k mit α = φ(t*) = maxt φ(t). Aufgrund der Natur der Differentialgleichung genügt es, die Lösung im Intervall [ 0, t* ] zu kennen, da sich die Lösung auf  dann als eine Schwingung mit der Schwingungsdauer T = 4t* aus der Teillösung zusammensetzen lässt. Derartige Überlegungen können wichtig sein, wenn sich eine Differentialgleichung nicht in einfacher Weise lösen lässt oder die Lösung noch nicht gefunden ist.

Dritter Fall

Annahme:  κ = 1

Es gilt w0 = 2ω. Sei wieder t* ≥ 0 derart, dass φ(t) > 0 für alle t  ∈  ] −t*, t* [. Dann gilt für alle t  ∈  ] −t*, t* [ (vgl. 1.5 zur Stammfunktion des Sekans):

w0t =  t0φ̇(s)ds1sin2(φ(s)/2)
=  2  φ(t)/20cos(ψ)  =  2 arsinh(tan(φ(t)/2)),  sodass

sinh(ωt)  =  tan(φ(t)/2),  und damit

φ(t)  =  2 arctan(sinh(ωt))  =  2 arcsin(tanh(ωt)). (Lösung im dritten Fall)

Ableiten zeigt wieder, dass eine Lösung auf ganz  gefunden wurde. Man kann auch argumentieren, dass die gefundene Lösung keine kritischen Punkte besitzt und damit die Wahl t* = ∞ möglich ist.

Im dritten Fall kriecht das Pendel also auf den oberen Kreispunkt zu, ohne ihn je zu erreichen.

 Wir fassen die Ergebnisse noch einmal zusammen.

φ(t)

Fall

Periode

Verhalten

2 am(ωt/k)

k  =  2ω/w0  <  1

2kK/ω

Überschlag

2 arcsin(ksn(ωt))

k  =  w0/(2ω)  <  1

4K/ω

Schwingung

2 arcsin(tanh(ωt))

w0  =  2ω

Kriechfall

 Wir haben alles aus der Formel (+) abgeleitet. Diese Formel ergibt sich auch direkt aus der Erhaltung der Energie

mℓ2w02φ̇(t)22  =  mg(1 − cos(φ(t)))  für alle t,

(Ableiten liefert die Differentialgleichung ••φ(t) = − ω2 sin(φ(t)), sodass bei diesem energetischen Ansatz die Projektion des Kraftvektors F auf die Tangente des Kreises mit abfällt.) Energetisch wird auch die Fallunterscheidung besonders klar: Im ersten Fall ist die kinetische Energie

Ekin  =  mv02/2  =  m w022/2

größer als 2mg, im zweiten Fall ist Ekin < 2mg und im dritten Ekin = 2mg.

analysis2-AbbID676a

Die Lösungen für g  =  9,8,    =  1, sowie (in den beiden ersten Fällen) k  =  0,8, getrennt durch den Kriechfall (gestrichelt).

analysis2-AbbID676b

Analog für

k  =  0,98 …

analysis2-AbbID676c

 … und für k  =  0,9999.

Das erste Diagramm zeigt eine typische Lösung für die Fälle 1 und 2. Die Startgeschwindigkeit im ersten Fall ist relativ hoch (w0 = v0 = 2ω/k = 2g/0,6 = 10,43), sodass jeder Looping mit einer recht gleichmäßigen Geschwindigkeit durchlaufen wird. In den anderen Diagrammen nähern wir uns dem Extremfall w0 = 2ω von oben und unten. Für k ∼ 1 ist arcsin(sin(am(ωt)/k)) ∼ arcsin(k sn(ωt)), was die strukturelle Ähnlichkeit der Lösungen im Fall 1 und 2 im dritten Diagramm erklärt.

 Noch eine Bemerkung zur Arkussinus-sn-Kombination in der zweiten Lösung: Der vorgeschaltete Arkussinus bewirkt, dass die Lösung zwischen einem skalierten Sinus Amplitudinis und einem passend gestreckten und skalierten Sinus liegt:

analysis2-AbbID678a
analysis2-AbbID678b

arcsin(k sn(u)) (durchgezogen), arcsin(k)sn(u) (gestrichelt) und arcsin(k)sin(πu/(2K)) (gepunktet) für k = 0,7 (links) und k = 0,98 (rechts)

 Schließlich bewirkt der vorgeschaltete Arkussinus im dritten Fall einen im Vergleich zu einem Tangens Hyperbolicus etwas verlangsamten Anstieg:

analysis2-AbbID680

2 arcsin(tanh(u)) und π tanh(u) (gestrichelt)