Lifting einer Kurve

 Die anschauliche Beschreibung des Liftings benötigt die Differenzierbarkeit der Kurve nicht. Wir beweisen nun eine entsprechende Verallgemeinerung des Satzes ohne Integration. Die Exponentialfunktion bildet jeden offenen Streifen der Breite 2π auf ganz  ohne einen Halbstrahl ab. Die Kurve β setzen wir „per Hand“ (nicht mehr durch ein Integral) aus Logarithmen zusammen.

Satz (Exponential-Lifting einer Kurve)

Sei α : [ a, b ]  * eine Kurve. Weiter sei w0  ∈   mit exp(w0) = α(a). Dann existiert eine eindeutige Kurve β : [ a, b ]   mit

(+)  β(a)  =  w0,  α(t)  =  exp(β(t))  für alle t  ∈  [ a, b ] (d. h. α = exp ∘ β).

Beweis

Für alle k  ∈   sei

Wk  =  W(] − π + k π, π + k π [)  =  { z  ∈   | (k − 1) π < Im(z) < (k + 1) π [ }.

Jeder Streifen Wk hat die Breite 2π. Zwei aufeinanderfolgende Streifen Wk, Wk + 1 überlappen sich mit der Breite π. Wir setzen Ik = ] −∞, 0 ] für k gerade und Ik = [ 0, ∞ [ für k ungerade. Dann gilt für alle k  ∈  :

exp : Wk   − Ik  bijektiv,

logk :  − Ik  Wk  bijektiv,  wobei  logk = (expWk)−1.

Ohne Einschränkung ist [ a, b ] = [ 0, 1 ]. Wir dürfen annehmen, dass α(0) = 1 und w0 = 0 (denn ist β für α/α(0) wie gewünscht, so ist β + w0 für α wie gewünscht). Wir setzen t0 = k0 = 0 und definieren rekursiv solange möglich:

tn + 1 =  „das kleinste t > tn mit α(t)  ∈  Ik(n)“,
kn + 1 =  „das eindeutige k  ∈  { kn + 1, kn − 1 }, für das ein ε > 0 existiert mit:
   α(t)  ∈  exp[ Wk(n) ∩ Wk ] für alle t  ∈  [ tn + 1 − ε, tn + 1 [“.

Da α stetig ist, bricht die Rekursion bei einem Index n* ≥ 0 ab. Es gilt

 α(t)  ∈  exp[ Wk(n) ] für alle t  ∈  [ tn, tn + 1 [ ,  n = 0, …, n* − 1,
 α(t)  ∈  exp[ Wk(n*) ] für alle t  ∈  [ tn*, 1 ].

Wir definieren entsprechend β : [ 0, 1 ]   durch

 β(t)  =  logk(n)(α(t)) für alle t  ∈  [ tn, tn + 1 [ ,  n = 0, …, n* − 1,
 β(t)  =  logk(n*)(α(t)) für t  ∈  [ tn*, 1 ].

Dann ist β wie gewünscht. Die Eindeutigkeit ergibt sich wie früher.

+

Zur rekursiven Konstruktion

Der Fall n* = 0 ist möglich und tritt genau dann ein, wenn α ganz in verläuft. In diesem Fall ist einfach β = log0 ∘ α mit dem Hauptzweig log0 des Logarithmus. Der Zeitpunkt t1 ist genau dann definiert, wenn α das Intervall ] −∞, 0 [ besucht. In diesem Fall wechseln wir in den Streifen W1 (Besuch von oben) oder W−1 (Besuch von unten), unabhängig davon, ob α bei t1 wirklich die Halbebene wechselt oder nicht. Bleibt α von t1 bis 1 in  − [ 0, ∞ [ , so wenden wir log0 in [ 0, t1 [ und log±1 in [ t1, 1 ] zur Konstruktion von β an. Die Logarithmen stimmen auf der Halbebene exp[ W0 ∩ W±1 ] überein. Besucht α in [ t1, 1 ] das Intervall ] 0, ∞ [ , so wechseln wir noch einmal den Streifen: nach W2 bei einem Besuch von unten und zurück nach W0 bei einem Besuch von oben. Allgemein ist tn + 1 genau dann definiert, wenn α das Ausnahmeintervall Ikn des Bildes von exp des aktuellen Streifens Wk(n) besucht. Entsprechend gilt kn + 1 = kn + 1 (Besuch gegen den Uhrzeigersinn) oder kn + 1 = kn − 1 (Besuch im Uhrzeigersinn). Nach Voraussetzung hat α keine Nullstellen, sodass Besuche auf der x-Achse immer auf ] −∞, 0 [ oder ] 0, ∞ [ erfolgen.

 Ein derartiges Lifting lässt sich auch für andere nicht injektive Funktionen durchführen, etwa für die Quadratfunktion (Durchführung einer analogen Konstruktion als Übung).

 Das Zusammenfügen von sich überlappenden Umkehrfunktionen ist eine sehr wichtige Konstruktion. Sie ist letztendlich elementar, wenn auch technisch etwas anspruchsvoller. Für den Autor ergibt sich erst im Zusammenspiel dieser Methode mit der Integration ein vollständiges Bild.

 Wir definieren für beliebige Kurven:

Definition (Grad einer Kurve)

Sei α : [ a, b ]  * eine geschlossene Kurve, und sei β ein Exponential-Lifting von α. Dann ist der Grad von α definiert durch

d(α)  =  β(b) − β(a)2π i  ∈  .

 Der Grad lässt sich mit α(0) = 1 und w0 = 0 auch aus dem Beweis des Satzes ablesen: Die Werte k(n) zählen halbe Umläufe. Ist α geschlossen, so ist t(n*) = 1 und d(α) = k(n*)/2.

 Ist γ : [ a, b ]   ein geschlossener Weg und ist p  ∈  Uγ, so gilt

(+)  indγ(p)  =  d(γ − p).

Insbesondere gilt indγ(0) = d(γ). Die Gradfunktion ist eine Funktion auf Kurven in *, während der Index eine wegabhängige Funktion auf einer Teilmenge von  ist. Wir können (+) zur Erweiterung der Indexfunktion verwenden:

Definition (Erweiterung der Indexfunktion auf Kurven)

Sei α : [ a, b ]   eine geschlossene Kurve, und sei Uα =  − spur(α). Dann setzen wir indα(p) = d(α − p) für alle p  ∈  Uα.