Geraden durch den Nullpunkt
Geraden sind nicht nur die einfachsten Polynome, sondern auch die grundlegenden Objekte der Approximation. Die Grundidee der Differentialrechnung ist die lokale Approximation einer Funktion durch eine Gerade (Tangentenbildung, Linearisierung). Das ist in der komplexen Analysis genauso wie in der reellen Version. Eine Tangente hat die Form
Funktionswert im Entwicklungspunkt plus linearer Anteil.
Die linearen Anteile sind Geraden durch den Nullpunkt. Wir betrachten diese Geraden genauer.
In ℂ haben die Geraden durch 0 die Form g : ℂ → ℂ mit
g(z) = c z für alle z ∈ ℂ,
mit einer gewissen komplexen „Steigung“ c ∈ ℂ, die wir den Drehfaktor der Geraden g nennen.
Trivial und Nichttrivial
Die triviale Gerade mit c = 0 ist die Nullabbildung, die alles schwarz färbt. Sie muss erwähnt und beachtet werden, lohnt aber kein Diagramm. Die fundamentale Unterscheidung „c ≠ 0 und c = 0“ entspricht dem Denken der Algebra: Ein Polynom c z mit c ≠ 0 hat den Grad 1, das Nullpolynom dagegen den symbolischen Grad −∞. Bei der Tangentenbildung ist die Steigung 0 eine Steigung wie jede andere, aus der Sicht von Abbildungen liegen Welten zwischen c = 0 und c ≠ 0: Die Nullfunktion ist nicht injektiv und nimmt nur einen Wert an, Geraden mit c ≠ 0 sind bijektiv.
Sei c = (r0, φ0)polar mit r0 > 0. Dann gilt aufgrund der geometrischen Multiplikationsregel:
Wir erhalten g(z), indem wir z um den Winkel φ0 drehen und um r0 skalieren.
In Polarkoordinaten gilt:
g((r, φ)polar) = (r0 r, φ + φ0)polar für alle (r, φ)polar.
Umgekehrt können wir zu einem gegebenen Winkel φ0 und positiven Skalierungsfaktor r0 die Gerade g durch 0 mit dem Drehfaktor c = (r0, φ0) bilden. Die komplexen Geraden durch 0 sind also abgesehen von der Nullabbildung genau die Drehstreckungen. Als Endomorphismen der Ebene werden sie, wie wir gesehen haben, durch die ℂ-linearen Matrizen beschrieben, also durch Matrizen der Form
Ac = mit c = (a, b) ∈ ℂ (die Nullmatrix A0 ist ℂ-linear).
Die komplexe Gerade g : ℂ → ℂ mit g(z) = − i z. Die Gerade ist eine Drehung um π/2 im Uhrzeigersinn. Gemäß dem „optischen Invertierungseffekt“ erscheint das Farbrad um π/2 gegen den Uhrzeigersinn gedreht.
Die komplexe Gerade g : ℂ → ℂ mit g(z) = (1 + i) z. Der Drehwinkel ist π/4, der Streckungsfaktor . Im gleichen Ausschnitt erhalten wir blassere Farben.
Die komplexe Gerade g mit g(z) = − i z als Vektorfeld, ein Wirbel im Uhrzeigersinn. Die Funktionswerte stehen senkrecht auf ihren Stellen: 〈 f (z), z 〉 = 〈 (y, − x), (x, y) 〉 = 0 mit z = (x, y). Im Diagramm sind die Pfeile mittig auf den Stellen z plaziert.
Die komplexe Gerade g : mit g(z) = (1 + i) z. Die Streckung um führt zu längeren Vektoren bei gleichem Farbintervall.