Allgemeine Geraden

 Eine allgemeine komplexe Gerade g :    hat die Form

g(z)  =  w0  +  c z  für alle z  ∈  ,

mit einer Nullpunkts-Translation w0 und einem Drehfaktor c. Wir nehmen wieder c ≠ 0 an, da sonst eine konstante Abbildung vorliegt, die alles nach w0 schickt. Die Wirkung von g lässt sich einfach beschreiben: Auf eine Drehstreckung mit Zentrum 0 folgt eine Translation um w0. Wir erhalten eine affine Abbildung.

 Sind eine Stelle p, ein Wert w0 und ein Drehfaktor c in  gegeben, so ist die Gerade g mit dem Drehfaktor c und g(p) = w0 definiert durch

g(z)  =  w0  +  c (z − p)  für alle z  ∈  .(Punkt-Drehfaktor-Form)

Der Drehfaktor ist c, die Translation ist w0 − c p.

Drehstreckungen mit beliebigem Zentrum

Geometrisch bedeutsam ist der Fall w0 = p, d. h.

g(z)  =  p  +  c (z − p)  für alle z  ∈  ,  g(p)  =  p.

Hier übernimmt p die Rolle des Nullpunkts. Ein z  ∈   wird von p aus „gemessen“, das Messergebnis z − p wird mit dem Drehfaktor c multipliziert und abschließend wieder um p verschoben. Geometrisch entspricht als dies einer Drehstreckung mit Zentrum p.

 Wir definieren (in Erweiterung der Diskussion in „Grundlagen“):

Definition (affine Drehstreckung, Zentrum)

Seien w0, c = (a, b) = (r, φ)polar  ∈  2 mit r > 0. Weiter sei

A  =  Ac  =  r rotφ  =  r cosφsinφsinφcosφ  ∈  2 × 2.

Dann heißt die affine Abbildung g : 2  2 mit

g(z)  =  w0  +  c z  =  w0  +  A z  für alle z  ∈  

die affine Drehstreckung mit Translation w0 und Drehfaktor c. Im Fall w0 = 0 sprechen wir auch wieder kurz von einer Drehstreckung.

Ist p  ∈  , so heißt die affine Abbildung h : 2  2 mit

h(z)  =  p + c (z − p)  =  p + A (z − p)  für alle z  ∈  

die Drehstreckung der Ebene mit Zentrum p und Drehfaktor c.

 Unsere Überlegungen zeigen:

Satz (Geometrie der komplexen Geraden, I)

Die nichtkonstanten komplexen Geraden sind genau die affinen Drehstreckungen der Ebene.

 Weiter gilt (Übung):

Satz (Fixpunktcharakterisierung der affinen Geraden)

Sei g :    eine affine Gerade, g(z) = w0 + c z, mit c ≠ 0. Dann gilt:

(a)

Sei c = 1. Ist w0 ≠ 0, so hat g keinen Fixpunkt. Ist w0 = 0, so hat g unendlich viele Fixpunkte.

(b)

Ist c ≠ 1, so hat g einen eindeutigen Fixpunkt p. Ist c ≠ 0, so ist g die Drehstreckung mit Zentrum p und Drehfaktor c.

Ist g wie im Satz und q  ∈   beliebig, so gilt

g(z)  =  w1  +  q  +  c (z − q)  mit  w1 = w0 + q (c − 1).

Damit können wir g als Drehstreckung mit Zentrum q gefolgt von einer Translation um w1 auffassen.

Komplexe Geraden als konforme Abbildungen

 Zu den komplexen Graden gelangen wir auch, wenn wir Winkel in den Vordergrund stellen. In der linearen Algebra definiert man:

Definition (konforme affine Abbildung)

Eine affine Abbildung g : 2  2 heißt konform, falls sie winkeltreu und orientierungserhaltend ist.

 Anstelle der Winkeltreue genügt bereits die (scheinbar) schwächere Bedingung des Erhalts der Orthogonalität. Eine affine Abbildung ist genau dann konform, wenn sie die Form g(x, y) = w0 + A (x, y) mit einer konformen Matrix A besitzt. Es gilt dann A e2 = rotπ/2 A e1 aufgrund des Erhalts von rechten Winkeln und Orientierung, sodass

A  =  abba =  r rotφ  mit  (r, φ)polar = (a, b) = A (1, 0) ≠ 0,  det(A) = a2 + b2.

Damit erhalten wir:

Satz (Geometrie der komplexen Geraden, II)

Die nicht konstanten komplexen Geraden sind genau konformen affinen Abbildungen der Ebene.

Diese Umformulierung der ersten Charakterisierung betont die Winkel.

Diskussion der Ergebnisse

 „Drehen und Strecken“ mag vielleicht als nicht besonders tiefsinnig erscheinen, ist aber für die komplexe Differentiation von enormer Bedeutung. Denn die komplexe Differenzierbarkeit bedeutet wie im Reellen die lokale Approximierbarkeit durch eine Gerade. Damit können wir bereits jetzt formulieren:

Vorblick

Eine komplexe Funktion f : P   ist genau dann differenzierbar an einer Stelle p  ∈  P, wenn sie dort lokal (bis auf einen kleinen Fehler o(z − p))

(a)

konstant gleich f (p) ist  oder andernfalls

(b)

eine affine Drehstreckung ist (gleichwertig: eine konforme affine Abbildung).

Äquivalent ist:

(+)  f (z)  =  f (p) + A (z − p) + o(z − w)  mit einer -linearen Matrix.

 Spiegelungen und achsenabhängige Streckungen, die Kreise in Ellipsen mit unterschiedlichen Halbachsen verformen, sind nicht komplex differenzierbar. Es ist bemerkenswert, dass die sehr restriktive Forderung des Winkel- und Orientierungserhalts zu einer derart reichen Theorie führt. Lesen wir die Darstellung (+) und A = ((a, b), (−b, a)) mit der Jacobi-Brille, so haben wir die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen vorliegen. Doch genug des Vorblicks!

 Die Betrachtung der Dinge in  wirft wie so oft ein neues Licht auf :

Reelle Geraden als Drehstreckungen

Eine reelle Gerade g :   , g(x) = a x mit a ≠ 0 können wir

(a)

im Fall a > 0 als Drehstreckung mit dem Winkel 0 und Faktor a

(b)

im Fall a < 0 als Drehstreckung mit dem Winkel π und Faktor |a|

interpretieren. In  treten allgemeine Drehwinkel auf, nicht nur 0 und π. Aus der Sicht von  ist die reelle Gerade g mit g(x) = − 2x eine Drehung um π gefolgt von einer Verdopplung (wobei die -aner dem linearen Denken noch attestieren, fast alles, nämlich den imaginären Anteil  −  der Welt, zu vernachlässigen).

 Weitere Beispiele dieser Art werden wir kennenlernen. Insbesondere bei der Diskussion der komplexen Wurzeln und Arkus-Funktionen werden wir von der „komplexen Warte“ aus Dinge sehen, die  nicht sehen kann, die aber für  von großer Bedeutung sind. Und in der Integration vereinfacht der − im wahrsten Sinne des Wortes − Weg über das Komplexe die Berechnung zahlreicher schwieriger reeller Integrale.

cana1-AbbIDcomplex_line_3

Die Gerade g mit g(z) = p + i (z − p) mit p = 1 + i ist eine Drehstreckung mit Zentrum p. Es gilt g(p) = p, das p-orange unserer Grundfärbung bleibt unverändert.

Wegen g(z) = 2 + i z ist g auch eine Drehstreckung um 0 mit Translation um 2. Die Umkehrfunktion g−1 mit g−1(z) = 2i − i z illustriert die Veränderung der Farben.

cana1-AbbIDcomplex_line_4

g(z)  =  1 − i  +  (1 + 2i)−1 (z − (2 − 2i)),  g(2 − 2i) = 1 − i  (ein Pink-Ton)