Der Kalkül des Differenzierens

 Die aus der eindimensionalen Theorie bekannten Ableitungsregeln gelten auch in . Einfach, bedeutsam und ständig im Einsatz ist:

Monom-Regel

d/dz za  =  a za − 1  für alle a  ∈  * (und z ≠ 0, falls a < 0).

 Ist ein Bereich P fest gewählt, so gelten wir alle f, g  ∈  𝒪(P):

Linearität

(c f + d g)′  =  c f ′ + d g′   für alle c, d  ∈  .

Produktregel und Quotientenregel

(f g)′  =  f ′ g  +  f g′,(Produktregel)

(f/g)′  =  (f ′ g − f g′)/g2  (g nullstellenfrei).(Quotientenregel)

 Aus algebraischer Sicht bildet die Menge 𝒪(P) der auf einem Bereich P holomorphen Funktionen ein kommutativen Ring und weiter einen -Vektorraum. Wir werden zeigen, dass für ein Gebiet G der Ring 𝒪(G) nullteilerfrei ist. Dies ist ein weiterer Unterschied zur reellen Welt:

Beispiel

Es gibt differenzierbare f, g :    mit f, g ≠ 0 und f g = 0 (etwa Parabeläste mit Nullfortsetzung). Derartige „flachgedrückte“ Überlagerungen differenzierbarer Funktionen sind in  nicht möglich.

 Für Verknüpfungen gilt:

Kettenregel

(g ∘ f)′  =  (g′ ∘ f) · f ′.(Kettenregel)

Genauer: Sind f : P  , g : Q   holomorph mit f [ P ] ⊆ Q, so ist die Verknüpfung h = g ∘ f : P   holomorph mit

h′(z)  =  g′(f (z)) f ′(z)  für alle z  ∈  P.

Auch hier sprechen wir vom Nachdifferenzieren mit der Ableitung von f.

Beispiel

Sei U = Ur(0) eine offene Kreisscheibe mit Radius r > 0, und sei f : U   differenzierbar. Dann gilt i z  ∈  U für alle z  ∈  U. Nach der Kettenregel gilt

d/dz f (i z) = i f ′(i z) für alle z  ∈  U.

 Last but not least haben wir:

Ableitungsregel für die Umkehrfunktion

f −1′ ∘ f  =  1/f ′,  f −1′  =  1/(f ′ ∘ f −1)  (f ′ nullstellenfrei).

Genauer gilt:

(+)Sei f : P  Q bijektiv, komplex differenzierbar bei p  ∈  P mit f ′(p) ≠ 0. Weiter sei f −1 : Q  P stetig bei q = f (p). Dann ist f −1 komplex differenzierbar bei q und es gilt f −1′(q) = 1/f ′(p).

Später werden wir zeigen: Ist f : P  Q holomorph und bijektiv, so ist Q offen und f −1 : Q  P stetig. Damit erhalten wir die finale Form der Regel:

(++)Ist f : P  Q bijektiv, holomorph und f ′ : P   nullstellenfrei, so ist die Umkehrfunktion f −1 : Q  P holomorph mit
f −1′(f (z))  =  1f ′(z)  für z  ∈  P,  f −1′(w)  =  1f ′(f −1(w))  für w  ∈  Q.

Bei der Umkehrung der elementaren ist die Offenheit des Bildes Q und die Stetigkeit von f −1 in der Regel leicht einzusehen, sodass wir die Version (#) für konkrete Fälle von Beginn an zur Verfügung haben.

 Die alten Beweise können übernommen werden. Wir hatten die Regeln direkt oder durch lineare Approximation bewiesen, und die Argumente bleiben in  gültig. Der Leser führe sich die Beweise der Produktregel mit „o(x − p)“ und der Kettenregel mit der Stetigkeisformulierung „s(x) (x − p)“ noch einmal vor Augen. Wir argumentieren nun analog mit „o(z − p)“ und „s(z) (z − p)“. Exemplarisch zeigen wir hier:

Beweis der Regel (+) für die Ableitung der Umkehrfunktion

Sei s : P   stetig bei p mit

f (z)  =  f (p)  +  s(z) (z − p)  für alle z  ∈  P,  s(p) = f ′(p) ≠ 0.

Da s stetig bei p ist und s(p) ≠ 0 gilt, können wir annehmen, dass s nullstellenfrei ist (durch Verkleinerung von P). Umstellung und die Bijektivität von f : P  Q liefern:

z  =  p  +  1s(z) (f (z) − f (p)) für alle z  ∈  P,
f −1(w)  =  f −1(q)  +  1s(f −1(w)) (w − q) für alle w  ∈  Q.

Nach Voraussetzung sind f −1 stetig bei q und s stetig bei p = f −1(q) mit s(p) ≠ 0, sodass 1/(s ∘ f −1) stetig bei q ist. Damit ist f −1 bei q differenzierbar mit f −1′(q) = 1/s(f −1(q)) = 1/s(p) = 1/f ′(p).

Biholomorphe Funktionen

Definition (biholomorph)

Eine bijektive holomorphe Funktion f : P  Q heißt biholomorph, wenn f −1 : Q  P holomorph ist.

 In der Definition ist enthalten, dass das Bild Q = f [ P ] offen ist. Wie bei der Regel für die Ableitung von f −1 schon erwähnt ist dies automatisch der Fall. Wir werden in Abschnitt 2 allgemeiner zeigen:

Satz (Offenheitssatz)

Sei f : P   holomorph und nicht lokal konstant. Dann ist f [ U ] offen für alle offenen U ⊆ P.

 Der Offenheitssatz der mehrdimensionalen Analysis, den wir aus dem Hauptsatz über implizite Funktionen gewonnen hatten, liefert den komplexen Offenheitssatz für den Fall einer nullstellenfreien Ableitung f ′ (unter der Annahme der stetigen reellen Differenzierbarkeit), da dann alle Jacobi-Matrizen Jf(z) invertierbar sind. Im komplexen Offenheitssatz sind Nullstellen der Ableitung zugelassen. Wir müssen nur die Minimalforderung stellen, dass f nicht lokal konstant ist.

 In  gilt überraschenderweise automatisch (auch dies werden wir zeigen):

Satz (Nullstellenfreiheit der Ableitung, Biholomorphiekriterium)

Sei f : P   holomorph und injektiv. Dann hat f ′ keine Nullstellen. Insbesondere ist die Biholomorphie einer Funktion f : P  Q äquivalent zu ihrer Holomorphie und Bijektivität.

Der Leser vergleiche dies mit der Funktion g :    mit g(x) = x3 für alle x  ∈  . Die Funktion ist injektiv mit g′(0) = 0. Die Umkehrabbildung g−1 ist im Nullpunkt nicht differenzierbar.

Beispiele

(1)

Seien a, b  ∈   mit a ≠ 0 und sei f :    mit f (z) = a z + b. Dann ist f :    biholomorph mit

f −1(z)  =  a−1 z − b/a  für alle z  ∈  .

(2)

Sei sq :    mit sq(z) = z2. Weiter seien H = { (x, y) | x > 0 } und  =  − ] ∞, 0 ]. Dann ist sq : H   biholomorph. Die Umkehrabbildung der auf H eingeschränkten Quadratfunktion ist der sog. Hauptzweig sqrt :   H der komplexen Quadratwurzel mit

sqrt((r, φ)polar)  =  (r, φ/2)polar  für alle r > 0 und φ ] −π, π [.

Mehr hierzu im Kapitel über Parabeln.