Der zweite Hauptsatz
Konstruktion von Stammfunktionen

 Ausgangspunkt ist nun die zweite Version des reellen Hauptsatzes. Dabei ist erneut I ein nichttriviales reelles Intervall.

Satz (reeller Hauptsatz II: Konstruktion von Stammfunktionen mit Integralen)

Sei f : I   stetig, und sei s  ∈  I. Weiter sei F : I   die Integralfunktion von f zum Startpunkt s, d. h.

F(x)  =  xs f (t) dt  für alle x  ∈  I.

Dann ist F eine Stammfunktion von f.

 Diese Version können wir, wie das Hauptbeispiel f (z) = 1/z mit Kreisintegration zeigt, nicht direkt nach  übertragen. Diese Funktion hat keine Stammfunktion auf *. Im Komplexen hängt ein Integral entlang eines Weges, der in s startet und in z endet im Allgemeinen vom Weg ab, sodass die Integralfunktion nicht durch diese beiden Punkte definiert werden kann. Eine naheliegende Idee ist, nur Strecken [ s, z ] vom Startpunkt s zu einem Punkt z zu verwenden. Diese Strecken liegen aber nicht immer im Definitionsbereich P einer stetigen Funktion f : P   mit P ⊆ . Wir werden jedoch später diese Idee aufgreifen und im Intregralsatz von Cauchy für Sterngebiete ein positives Ergebnis erhalten: Gibt es einen Punkt s mit [ s, z ] ⊆ P für alle z  ∈  P, so definiert F(z) = I(f, [ s, z ]) in der Tat eine Stammfunktion von f, unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass f : P   nicht nur stetig, sondern holomorph ist.

 Unproblematisch ist die Verallgemeinerung des zweiten Hauptsatzes auf komplexwertige Funktionen mit einem reellen Definitionsbereich durch Aufspaltung in Real- und Imaginärteil. Wir erhalten (Übung):

Satz (Hauptsatz II für Wege)

Sei f : P   stetig, und sei γ : [ a, b ]  P ein Weg. Weiter sei β : [ a, b ]   definiert durch

β(t)  =  γ[ a, t ] f (z) dz  =  ta f (γ(s)) γ′(s) ds  für alle t  ∈  [ a, b ].

Dann ist β ein Weg und es gilt stückweise β′(t) = f (γ(t)) γ′(t).

 Das ist keine Übertragung nach , da keine Stammfunktion von f konstruiert wird. Im Unterschied zu den Kurvenintegralen der reellen Analysis wird die komplexe Multiplikation und nicht der Betrag des Tangentialvektors verwendet. Der reelle Hauptsatz II wird zweimal für die stetigen Integranden Re(f (γ(s)) γ′(s)) und Im(f (γ(s)) γ′(s)) bemüht. Solange die Integranden stetig sind, erhalten wir reelle Stammfunktionen, egal, ob wir die komplexe Multiplikation oder den Betrag oder etwas anderes benutzen.

 In  gilt die Wegunabhängigkeit eines Integrals von s nach x automatisch, da wir nur geradlinig von a nach b laufen können (evtl. mit Hin- und Rückwegen, die sich im Integral gegenseitig ausheben). Dies ist ein Spezialfall der Unabhängigkeit eines Wegintegrals von der Parametrisierung, die auch für alle komplexen Wegintegrale gilt. Was nicht für alle komplexen Wegintegrale gilt, ist die Unabhängigkeit von der Spur des Weges. Der reelle Hauptsatz II enthält eine in  immer richtige und damit „verschwiegene“ Voraussetzung, die wir  explizit fordern müssen, damit die Integralfunktion überhaupt definiert ist. Wir können ja in der Ebene auf verschiedene Weisen von einem Startpunkt s zu einem Ziel z laufen. Wir definieren also:

Definition (Integralfunktion)

Sei f : G   stetig mit wegunabhängigen Integralen, und sei s  ∈  G. Dann ist die Integralfunktion F : G   von f zum Startpunkt s definiert durch

F(z)  =  zs f (ζ) dζ  =  γz f (ζ) dζ,

wobei γz irgendein Weg von s nach z in G ist.

 Der Buchstabe Zeta (ζ) ist unsere bevorzugte Integrationsvariable, wenn z vergeben ist (und die Riemannsche Zeta-Funktion nicht im Spiel ist).

 Da G ein Gebiet ist, gibt es für jedes z einen Weg von s nach z in G. Die topologische Voraussetzung ist notwendig, wenn wir eine Funktion auf dem gesamten Definitionsbereich erhalten möchten.

 Nun können wir zeigen:

Satz (komplexer Hauptsatz II)

Sei f : G   mit wegunabhängigen Integralen, und sei s  ∈  G. Dann ist die Integralfunktion F : G   von f zum Startpunkt s eine Stammfunktion von f.

Beweis

Sei p  ∈  G. Wir zeigen, dass F′(p) = f (p). Da G offen ist, gibt es ein ε > 0 mit Uε(p) ⊆ G. Sei z  ∈  Uε(p), und seien γz, γp beliebige Wege von s nach z bzw. p in G. Dann ist auch γp + [ p, z ] ein Weg von s nach z in G, sodass nach Definition der Integralfunktion und der Wegunabhängigkeit gilt:

F(z) =  γz f (ζ) dζ  =  γp f (ζ) dζ  +  [ p, z ] f (ζ) dζ
=  F(p)  +  [ p, z ] f (ζ) dζ

Es gilt I(f (p), [ p, z ]) = f (p) (z − p) (konstantes Streckenintegral), sodass

(+)  F(z)  =  F(p) + f (p) (z − p)  +  [ p, z ] f (ζ) − f (p) dζ.

Für das Integral rechts gilt nach der Standardabschätzung

|[ p, z ] f (ζ) − f (p) dζ |  ≤  |z − p| supζ  ∈  [ p, z ] (f (ζ) − f (p)).

Da f stetig strebt das Supremum gegen 0, wenn z gegen p strebt. Damit hat (+) die Form

F(z)  =  F(p) + f (p) (z − p)  +  o(z − p)  für z  p,

sodass f (p) = F′(p) nach dem Approximationssatz.

 Die beiden Hauptsätze können wir wie folgt zusammenfassen:

Satz (komplexer Hauptsatz I + II)

Sei f : G   stetig. Dann sind äquivalent:

(a)

f besitzt eine Stammfunktion.

(b)

f hat wegunabhängige Integrale.

(c)

Die Integralfunktion F : G   von f zu einem beliebigen Startpunkt ist wohldefiniert und eine Stammfunktion von f.

Die Äquivalenz von (a) und (b) gilt auch für beliebige Bereiche P.

 Der „Cauchy-Block“ der Darstellung der Funktionentheorie besteht nun darin, einfache und überprüfbare Bedingungen zu finden, unter denen die äquivalenten Aussagen des Satzes gelten. Dabei stellt sich heraus, dass gute topologische Eigenschaften im Zusammenspiel mit der Holomorphie die gewünschten Ergebnisse liefern. Damit gibt es einen topologischen Paradigmenwechsel: Die Wegunabhängigkeit von Integralen wird nicht aus der Sicht einer festen stetigen Funktion gefordert, sondern aus guten topologischen Eigenschaften eines Weges in einem Gebiet für alle holomorphen Funktionen hergeleitet. Entsprechende „Integralsätze von Cauchy“ werden wir im zweiten Abschnitt beweisen. Nach diesem ersten Einblick in die komplexe Integrationstheorie fahren wir nun mit der Erkundung des Zoos der elementaren Funktionen fort. Die Exponentialfunktionen und Logarithmen, die nun folgen, sind untrennbar mit der Differentiation und Integration verbunden. Der komplexe Logarithmus liefert einen tieferen Einblick in unser Hauptbeispiel.