Wegunabhängigkeit

 Es stellt sich die Frage nach der Wegunabhängigkeit von Integralen: Wann hängt ein Integral I(f, γ) nur vom Anfangs- und Endpunkt von γ ab? Es genügt dabei, geschlossene Wege zu betrachten:

Satz (Umlaufintegrale Null)

Sei f : P   stetig. Dann sind äquivalent:

(a)

Es gilt I(f, γ1) = I(f, γ2), für alle Wege γ1 und γ2 in P, die sich die Endpunkte teilen.

(b)

Es gilt I(f, γ) = 0 für jeden geschlossenen Weg γ in P.

Beweis

(a) impliziert (b):

Sei γ : [ a, b ]   geschlossen, und sei γa : [ a, a ]   der konstante Weg mit γa(a) = γ(a). Dann gilt I(f, γa) = 0. Da sich γ und γa die Endpunkte teilen (hier jeweils a), gilt I(f, γ) = I(f, γa) = 0 nach (a).

(b) impliziert (a):

Seien γ1 und γ2 Wege von z1 nach z2 in P. Dann ist der Weg γ = γ1 − γ2 geschlossen (mit Start- und Endpunkt z1). Damit gilt nach (b):

I(f, γ1)  −  I(f, γ2)  =  I(f, γ)  =  0.

Dies zeigt (a).

 Wir definieren:

Definition (wegunabhängige Integrale)

Sei f : P   stetig. Dann hat f wegunabhängige Integrale, falls für jeden geschlossenen Weg γ in P gilt, dass I(f, γ) = 0.

Der Satz über Umlaufintegrale erlaubt die folgende suggestive Notation:

Notation für wegunabhängige Integrale

Hat f : P   wegunabhängige Integrale und liegen z1, z2 in der gleichen Komponente von P, so setzen wir

I(f, z1, z2)  =  z2z1 f (z) dt  =  γ f (z) dt,

wobei γ irgendein Weg in P von z1 nach z2 ist.

 Der komplexe Hauptsatz I zeigt:

Korollar (hinreichende Bedingung für Wegunabhängigkeit)

Sei f : P   stetig. Ist f integrabel, so hat f wegunabhängige Integrale.

 Die Umkehrung dieser Implikation gilt ebenfalls, wie wir im zweiten Hauptsatz gleich zeigen werden. Die Wegunabhängigkeit ist also äquivalent zur Integrabilität (der Existenz von Stammfunktionen).

 Durch Kontraposition erhalten wir:

Korollar (Nichtexistenz von Stammfunktionen)

Hat eine stetige Funktion ein von Null verschiedenes Umlaufintegral, so besitzt sie keine Stammfunktion.

Beispiel

Die holomorphe Funktion f :   mit f (z) = 1/z hat keine Stammfunktion, da

K1 1z dz  =  2π i  ≠  0.

 Gibt es also keinen komplexen Logarithmus? Natürlich schon, aber er kann nicht auf ganz * definiert werden. Allgemeiner kann ein Definitionsbereich einer Stammfunktion von 1/z keinen Kreis enthalten, da sonst wieder ein nicht verschwindendes Umlaufintegral vorhanden wäre. Damit können wir an dieser Stelle schon einsehen, dass wir die Ebene bis zum Nullpunkt gerad- oder krummlinig aufschneiden müssen, wenn wir einen Logarithmus erhalten wollen (eine Stammfunktion von 1/z auf dem geschlitzten Gebiet). Wir müssen aus jedem Kreis um den Nullpunkt mindestens einen Punkt entfernen. Ein holomorpher Logarithmus ist auf der Schnittkante nicht definiert. Definieren wir ihn dort, so wird er unstetig. Das kennen wir von der Quadratwurzel, und auch für den Logarithmus wird sich die geschlitzte Ebene als Definitionsbereich eines Hauptzweiges anbieten.

 Wir betrachten noch ein Beispiel mit einer stetigen, aber nicht holomorphen Funktion. Hier ist der Definitionsbereich ganz .

Beispiel

Sei f :    definiert durch f (z) = Re(z). Die Integrale

[ 0, 1 + i ] f (z) dz,  [ 0, 1 ] + [ 1, 1 + i ] f (z) dz,  [ 0, i ] + [ i, 1 + i ] f (z) dz

zeigen, dass f keine wegunabhängigen Integrale besitzt (Nachweis als Übung). Der Leser berechne zudem das Umlaufintegral I(f, K) über den

Einheitskreis K.