Das Lemma von Goursat-Pringsheim

 Wir fixieren ein Gebiet G. Die einfachsten geschlossenen Wege in G sind aus Strecken zusammengesetzt. Unsere ersten (trivialen) Integralsätze vom Typ 1 sind:

Eineckswege

Sei z1  ∈  G. Dann hat der konstante Weg γ = [ z1, z1 ] mit γ(t) = z1 für alle t  ∈  [ 0, 1 ] Nullintegrale (da γ′(t) = 0 für alle t).

Zweieckswege

Seien z1, z2  ∈  G, und seien γ1 = [ z1, z2 ], γ2 = [ z2, z1 ] = − γ1. Dann hat der Weg γ = γ1 + γ2 Nullintegrale. Denn für alle holomorphen f : G   gilt:

I(f, γ)  =  I(f, γ1) + I(f, γ2)  =  I(f, γ1) − I(f, γ1)  =  0.

 Interessanter sind Dreickeckswege. Für beliebige z1, z2, z3  ∈   setzen wir

D  =  D(z1, z2, z3)  =  [ z1, z2 ]  +  [ z2, z3 ]  +  [ z3, z1 ].(Dreieck)

Ein Dreieck fassen wir (wie jeden Streckenzug) je nach Kontext als Weg oder als Teilmenge der Ebene auf. Als Menge gilt:

D  =  D(z1, z2, z3)  =  { λ1 z1 + λ2 z2 + λ3 z3 | λk  ∈  [ 0, 1 ], λ1 + λ2 + λ3 = 1 }.

Das zugehörige abgeschlossene Volldreieck ist gegeben durch

D+  =  D+(z1, z2, z3)  =  { λ1 z1 + λ2 z2 + λ3 z3 | λk  ∈  [ 0, 1 ], λ1 + λ2 + λ3 ≤ 1 }.

Es gilt D = ∂(D+).

 Das folgende „Lemma“ ist viel mehr als ein Hilfsmittel: Es ist ein erster nichttrivialer Integralsatz vom Typ 1.

Satz (Lemma von Goursat-Pringsheim)

Ein G ein Gebiet, und sei D ein Dreieck mit D+ ⊆ P. Dann hat D Nullintegrale, d. h., für jede holomorphe Funktion f : G   gilt

I(f, D)  =  D f (z) dz  =  0.

 Wir werden im Beweis die Holomorphie von f einsetzen und nicht nur wie bisher die Stetigkeit. Zudem ist wichtig, dass das Volldreieck (Rand und Inneres) in P enthalten ist. Im Beweis werden wir das Dreieck D auf einen Punkt zusammenschrumpfen, und es ist wesentlich, dass wir dabei in P bleiben. Der Satz ist ohne diese Eigenschaft falsch: Ist f (z) = 1/z auf *, so ist ein Integral über ein Dreieck mit dem Nullpunkt in seinem Inneren von 0 verschieden (Variante des Hauptbeispiels, Nachweis als Übung).

 Goursat hat Rechtecke verwendet (1888). Pringsheim hat Dreiecke ins Spiel gebracht (1901), die alles noch einfacher machen. Der Integralsatz von Cauchy wird sich aus dem Lemma im Zusammenspiel mit dem Beweis des Hauptsatzes II in wenigen Zeilen ergeben. Cauchy hat seinen Integralsatz bereits 1825 gefunden. Der Weg über das Goursat-Pringsheim Lemma ist ein Ergebnis der Folgegeneration. Er ist bis heute Standard.

 Wir beginnen mit einer geometrischen Konstruktion.

Dreiecks-Viertelung

Ein Dreieck D können vierteln, indem wir die Mittelpunkte der Seiten durch Linien verbinden. Durchlaufen wir die vier kleineren Dreiecke gegen den Uhrzeigersinn, so werden die Seiten von D einmal gegen den Uhrzeigersinn durchlaufen, die inneren Seiten dagegen je einmal in beiden Richtungen, sodass sie sich im Integral aufheben. Das durch Viertelung „verlängerte Integral“ über alle vier Teildreiecke hat also den gleichen Wert wie das Integral entlang des Randes von D.

 Damit können wir den Beweis durch „Dreiecks-Schachtelung“ führen.

Beweis des Lemmas von Goursat-Pringsheim

Sei D = D(z0, z1, z2) ein Dreieck mit Umfang u. Weiter sei f  ∈  𝒪(G). Wir definieren rekursiv eine Folge (Dn)n  ∈   von Dreiecken, indem wir mit D0 = D starten und als Dn + 1 eines der vier Teildreiecke der Viertelung von Dn wählen mit maximalem Wegintegral bzgl. f. Jedes Dn hat den Umfang u/2n. Durch die Maximalität erhalten wir induktiv, dass für alle n gilt:

(+)  |I(f, D)|  ≤  4n |I(f, Dn)|

Es gilt limn diam(Dn) = 0. Nach dem Schachtelungsprinzip für kompakte Mengen existiert ein eindeutiges p mit

n Dn  =  { p }.

An der Stelle p verwenden wir nun die Differenzierbarkeit von f. Es gilt

f (z)  =  f (p)  +  f ′(p) (z − p)  +  s(z) (z − p)  mit s stetig, s(p) = 0.

Die Tangente besitzt eine Stammfunktion, sodass Umlaufintegrale (nicht nur über Dreiecke) Null sind. Zusammen mit der Standardabschätzung und der Linearität des Integrals erhalten wir, dass für alle n gilt:

|I(f, Dn)|  =  |Dn f (z) dz|  =  |Dn s(z) (z − p) dz|

  ≤  u2n supz  ∈  Dn |(z − p) s(z)|

  ≤  u2n u2n + 1 supz  ∈  Dn |s(z)|.

Bei der zweiten Abschätzung verwenden wir: Der Durchmesser eines Dreiecks ist die Länge einer längsten Seite. Damit ist der Abstand zweier Punkte eines Dreiecks kleinergleich der Hälfte seines Umfangs.

Aus (+) und der ε-δ-Stetigkeit von s folgt

|I(f, D)|  ≤  infn (u2/2 · supz  ∈  Dn |s(z)|)  =  0.

Dies zeigt die Behauptung.

Ausnahmepunkte

 Wir können Ausnahmepunkte der Holomorphie zulassen, was sich in Anwendungen als sehr nützlich erweisen wird. Hierzu definieren wir:

Definition (fast holomorph)

Ein f : P   heißt fast holomorph, falls f stetig ist und es p1, …, pm  ∈  P gibt, sodass f holomorph auf P − { p1, …, pm } ist.

 Wir werden später sehen, dass fast holomorphe Funktionen automatisch holomorph sind, sodass der Begriff überflüssig wird.

Satz (Lemma von Goursat-Pringsheim II)

Sei G ein Gebiet, und sei D ein Dreieck mit D+ ⊆ G. Weiter sei f : G   fast holomorph. Dann gilt I(f, D) = 0.

Beweis

Seien p1, …, pm die Ausnahmepunkte der Holomorphie von f. Sei D ein Dreieck in P (d. h. D+ ⊆ P), und sei u sein Umfang. Weiter sei ε > 0.

Wir vierteln D solange, bis wir nach n-Schritten insgesamt 4n kongruente Dreiecke D1, …, D4n erhalten haben mit

I(f, Dk)  ≤  ε6 m  für k = 1, …, 4n.

Ein solches n existiert nach der Beschränktheit von fD+ und der Standardabschätzung, da alle Dreiecke der n-ten Viertelung den Umfang u/2n haben. Jeder Ausnahmepunkt gehört zu höchstens sechs Volldreiecken der Zerlegung. Nach Goursat-Pringsheim sind die f-Integrale aller Dreiecke ohne Ausnahmepunkt Null, sodass

I(f, D)  =  1 ≤ k ≤ 4n I(f, Dk)  ≤  6 m ε6 m  =  ε.

Da ε beliebig ist, folgt I(f, D) = 0.