Das Integral über exp(i z)/z und der Kardinalsinus
Als Anwendung des Integralsatzes betrachten wir die Funktion f : ℂ → ℂ mit
f (z) = exp(iz) − 1z = cos(z) − 1z + i sin(z)z für z ≠ 0, f (0) = i.
Die Funktion f ist holomorph mit der Potenzreihenentwicklung
f (z) = ∑n ≥ 1 in zn − 1n! = i − z2 − i z23! + z34! + i z45! ∓ …
Sei U = Ur(0) mit r > 0. Nach dem Integralsatz gilt I(f, ∂U) = 0. Zusammen mit dem Hauptbeispiel und der Linearität des Integrals erhalten wir
∫∂U exp(i z)z dz = ∫∂U 1z dz = 2πi.
Beide Integranden sind holomorphe Funktionen auf ℂ*. Während das rechte Integral seinen Wert 2πi auf dem Kreis ∂U gleichmäßig aufsammelt, taucht beim linken Integral ein bemerkenswertes Ungleichgewicht auf. Es gilt
∫∂U exp(i z)z dz = ∫2π0 exp(i r exp(i t))r exp(i t) i r exp(i t) dt
= i ∫2π0 exp(i r (cos(t) + i sin(t))) dt
= i ∫2π0 ei r cos(t) e− r sin(t) dt.
Der Betrag des Integranden auf der rechten Seite ist exp(− i r sin(t)).
gr(t) = exp(− r sin t) auf [ 0, 2π ] für einige r. Es gilt gr(0) = gr(π) = gr(2π) = 1. In ] 0, π [ und ] π, 2π [ streben die Funktionen gegen 0 bzw ∞.
Die Integrale über exp(− r sin t) konvergieren auf [ 0, π ] gegen 0, wenn r gegen unendlich strebt. Damit erhalten wir für die obere Kreishälfte ∂Ur(0)+:
limr → ∞ |∫∂Ur(0)+ exp(i z)z dz| = limr → ∞ ∫π0 exp(− r sin t)) dt = 0.
Die obere Kreishälfte trägt für r → ∞ zum Wert 2πi des Kreisintegrals I(f, ∂U) verschwindend klein bei. Wir ersetzen nun die untere Kreishälfte durch die Strecke [ −r, r ] ⊆ ℝ und erhalten nach dem Integralsatz und dem „halben Hauptbeispiel“:
∫[ −r, r ] exp(i z) − 1z dz = − ∫Ur(0)+ exp(i z) − 1z dz
= ∫Ur(0)+ 1z dz − ∫Ur(0)+ exp(i z)z dz
= π i − ∫Ur(0)+ exp(i z)z dz.
Grenzwertbildung r → ∞ und Verwendung der reellen Notation liefert
∫∞−∞cos(x − 1)x + i sin(x)x dx = ∫∞−∞exp(i x) − 1x dx = 0 + i π.
Die Funktion si : ℝ → ℝ mit si(x) = sin(x)/x, si(0) = 1 ist der Kardinalsinus, den wir in der Analysis 1 zur Berechnung von ζ(2) = ∑n ≥ 1 1/n2 = π2/6 „nach Euler“ verwendet hatten. Hier haben wir über den Umweg ins Komplexe gezeigt:
Satz (Dirichlet-Integral)
∫∞−∞ si(x) dx = π, ∫∞0 si(x) dx = π2.
Mehrere Wege führen zum Ziel:
Ausweichen der Polstelle
Wir betrachten nur die Funktion exp(i z)/z auf ℂ* und Halbkreise wie oben, wobei wir nun der Polstelle bei 0 durch einen kleinen Halbkreis mit Radius s ausweichen (einer s-Beule bei 0). Da exp(i z)/z auf ℂ* holomorph ist, ist das Integral eines derart verbeulten Halbkreises für alle 0 < s < r gleich 0. Nun ist zusätzlich zu zeigen, dass der kleine Halbkreis im Limes s → 0 den Wert − i π beiträgt, während die Integrale für die beiden reellen Strecken [ − r, − s ] und [ s, r ] übereinstimmen (Durchführung dieses Ansatzes als Übung). Wir kommen beim Residuenkalkül hierauf zurück.
Weiter lässt sich das Dirichlet-Integral auch durch ein zweidimensionales reelles Integral berechnen (in Analogie zur Glockenkurve, vgl. Analysis 2). Dies ist ebenfalls ein Umweg in die Ebene, wenn auch methodisch verschieden.
Die Funktion exp(iz)/z auf ℂ* mit ihrem Pol im Nullpunkt. Die sehr geringen Beträge in der oberen Halbebene führen zu entsprechend kleinen Beiträgen in Kreisintegralen um den Nullpunkt.