Homotope Kurven

 Die Untersuchung stetiger Deformationen einer Funktion f : X  Y zwischen zwei topologischen Räumen ist das Thema der Homotopie-Theorie. Wir brauchen in der komplexen Integration zwei Spezialfälle für Kurven in einem vorgegebenen Gebiet G der komplexen Ebene. Der erste Fall betrifft zwei Kurven, die sich den gleichen Anfangs- und Endpunkt teilen und unter ständiger Festhaltung dieser Punkte stetig in G ineinander übergeführt werden. Der zweite Fall hat zwei beliebige geschlossene Kurven im Blick, die unter Beibehaltung der Geschlossenheit stetig in G ineinander übergeführt werden können.

Einheitsintervall I für Kurven

Wir nehmen im Folgenden − wie schon bei den Strecken [ z1, z2 ] − an, dass Kurven stets auf dem reellen Einheitsintervall I = [ 0, 1 ] definiert sind. Dies lässt sich durch eine Parametertransformation erreichen. Das Aneinanderfügen zweier Kurven γ1 und γ2 ergibt wieder eine Kurve auf I, wenn wir zwischenzeitlich zu [ 0, 1/2 ] und [ 1/2, 1 ] übergehen. Dabei setzen wir voraus, dass γ2 da anfängt, wo γ1 aufhört (vgl. auch den Zwischenabschnitt über die Fundamentalgruppe für genauere Definitionen).

Homotopie mit festen Endpunkten

 Der erste für die komplexe Integration wichtige Homotopiebegiff ist:

Definition (homotop mit festen Endpunkten)

Sei G ⊆  ein Gebiet. Weiter seien a, b  ∈   und γ0, γ1 : I  G Kurven von a nach b. Dann heißen γ0 und γ1 homotop (mit festen Endpunkten) in G, falls es ein stetiges H : I2  G gibt mit

H(t, 0)  =  γ0(t),  H(t, 1)  =  γ1(t) für alle t  ∈  I,
H(0, s)  =  a,  H(1, s)  =  b für alle s  ∈  I.

Ein derartiges H heißt eine Homotopie (mit festen Endpunkten) von a nach b.

 Eine Homotopie können wir erneut dynamisch interpretieren: H startet zur Zeit 0 mit der Kurve H0 = H(·, 0) = γ0, deformiert γ0 in der Zeit s stetig in Kurven Hs = (·, s) und endet zur Zeit 1 bei H1 = H(·, 1) = γ1. Start- und Endpunkt bleiben dabei festgenagelt. Wir müssen zu jedem Zeitpunkt ganz in G bleiben, sodass wie keine Löcher überstreichen können. Die deformierten Kurven Hs sind im Allgemeinen keine Wege, auch wenn γ0 und γ1 Wege sind.

 Wir könnten natürlich die Homotopie allgemein für beliebige Kurven ohne die Endpunkt-Bedingung formulieren, würden dann aber einen in unserem Kontext unpassenden Begriff erhalten.

 Mit Hilfe der Homotopie zweier Kurven können wir definieren:

Definition (einfach zusammenhängend)

Ein Gebiet G in  heißt einfach zusammenhängend, falls für alle a, b  ∈  G gilt: Je zwei Kurven γ0, γ1 von a nach b in G sind homotop mit festen Endpunkten.

 Anschaulich sind die einfach zusammenhängenden Gebiete die Gebiete ohne Löcher in . Ein grundlegendes Beispiel ist:

Beispiel

Sei G konvex. Dann ist G einfach zusammenhängend. Sind γ0, γ1 : I   Kurven von a nach b in G, so ist H : I2   mit

H(t, s)  =  (1 − s) g0(t)  +  s γ1(t)  für alle s, t  ∈  I

eine Homotopie von γ0 nach γ1 (relativ zu 0, 1). Die stetige Überführung verläuft entlang der Strecken [ γ0(t), γ1(z) ] sich zeitlich entsprechender Punkte der Kurven. Da G konvex ist, liegen diese Strecken in G.

Freie Homotopie für geschlossene Kurven

 Für unseren zweiten Homotopie-Begriff betrachten wir ausschließlich geschlossene Kurven in einem Gebiet G.

Definition (homotop für geschlossene Kurven)

Sei G ⊆  ein Gebiet. Seien γ0, γ1 : I  G geschlossene Kurven. Dann heißen γ0 und γ1 (frei) homotop in G, falls es ein stetiges H : I2  G gibt mit

H(t, 0)  =  γ0(t),  H(t, 1)  =  γ1(t) für alle t  ∈  I,
H(0, s)  =  H(1, s) für alle s  ∈  I.

Ein derartiges H heißt eine (freie) Homotopie von γ0 nach γ1.

 Eine geschlossene Kurve können wir uns als Kurve auf dem Einheitskreis K1 anstelle von I vorstellen. Bei einer stetigen Deformation bleibt dann die Geschlossenheit automatisch erhalten. Wir bleiben in der Definition beim Einheitsintervall I, müssen dann aber explizit in die Definition aufnehmen, dass die deformierten Kurven zu jedem Zeitpunkt geschlossen sind.

 Ist γ : I  G geschlossen, so nennen wir γ(0) = γ(1) auch den Basispunkt von γ. Eine freie Homotopie hält den Basispunkt einer geschlossenen Kurve im Allgemeinen nicht fest. Die Funktion H(0, ·) ist selbst eine Kurve und beschreibt die Verschiebung des Basispunkts in der Zeit s; es gilt H(0, ·) = H(1, ·). Eine freie Homotopie deformiert γ1 stetig in γ2 und kann dabei alle Punkte bewegen. Die Transformation muss wieder jederzeit in G verbleiben. Wir dürfen die geschlossene Kurve γ0 stetig verbiegen, aber nicht aufschneiden und wieder verkleben.

 Ein instruktives Beispiel zur Unterscheidung der beiden Begriffe ist:

Beispiel

Seien γ0, 1 : I   definiert durch

γ0(t)  =  exp(i2π t),  γ1(t)  =  exp(i2π t + π)  für alle t  ∈  I.

Dann sind die Kurven nicht nicht homotop relativ zu 0, 1 (da sie unterschiedliche Start- und Endpunkte haben). Sie sind aber frei homotop. Eine (freie) Homotopie H : I2   ist gegeben durch die Drehung

H(t, s)  =  exp(i 2 π t + s π)  für alle s, t  ∈  I.

Allgemeiner gilt dies für affine Kreistransformationen, etwa die Verformung eines Kreises in eine Ellipse (jeweils aufgefasst als Kurve).

 Ein wichtiger Spezialfall ist:

Definition (nullhomotop)

Sei G ein Gebiet. Eine geschlossene Kurve γ in G heißt nullhomotop, falls es ein a  ∈  G gibt, sodass γ und die konstante geschlossene Kurve εa : I  G mit εa(t) = a für alle t frei homotop sind.

 Anschaulich ist eine geschlossene Kurve γ in G nullhomotop, wenn sie sich in G auf einen Punkt a  ∈  G (der nicht auf der Spur von γ liegen muss), zusammenziehen lässt. Die Nullhomotopie ist nur für geschlossene Kurven erklärt.

Beispiel

Sei G ein Sterngebiet mit Zentrum z0. Weiter sei γ : I  G eine geschlossene Kurve. Dann ist γ nullhomotop. Die Abbildung H : I2  G mit

H(t, s)  =  z0  +  (1 − s) 0(t) − z0)  für alle t, s  ∈  I

ist eine Homotopie von γ zur konstanten Kurve εz0.

 Die Nullhomotopie führt zu keinem neuen Zusammenhangsbegriff, denn es gilt (Beweise als Übung):

Satz (Übergang von frei homotop zu homotop mit festen Endpunkten)

Seien γ0, γ1 frei homotop in einem Gebiet G mit zugehöriger Homotopie H. Weiter sei δ = H(0, ·) = H(1, ·), und es sei γ = δ + γ1 − δ. Dann sind γ0 und γ frei homotop in G mit festen Endpunkten.

Satz (einfach zusammenhängend und nullhomotop)

Sei G ein Gebiet in . Dann sind äquivalent:

(a)

G ist einfach zusammenhängend.

(b)

Je zwei geschlossene Kurven in G sind frei homotop.

(c)

Jeder geschlossene Weg in G ist nullhomotop.

 Damit könnten wir auch die Nullhomotopie zur Definition des einfachen Zusammenhangs verwenden. Zu Zugänge sind äquivalent.

 Folgende Charakterisierungen sind ansprechend, aber nicht leicht zu zeigen, sodass wir sie hier ohne Beweis angeben.

Satz (Charakterisierungen des einfachen Zusammenhangs)

(a)

Sei  =  ∪ { ∞ } die Riemannsche Zahlenkugel mit Nordpol ∞. Dann ist ein Gebiet G ⊆  genau dann einfach zusammenhängend, wenn sowohl G als auch  − G zusammenhängend in sind.

(b)

Sei G ein Gebiet mit G ≠ . Dann ist G genau dann einfach zusammenhängend, wenn jede Komponente von  − G unbeschränkt ist.

(c)

Sei G ein beschränktes Gebiet. Dann ist G genau dann einfach zusammenhängend, wenn  − G zusammenhängend ist.

Beispiele

(1)

Sei W der waagrechte Streifen W(] −1, 1 [). Dann ist

 − W  =  W(] −∞, 1 ])  ∪  W([ 1, ∞ [)  ∪  { ∞ }

zusammenhängend in , da wir über den Nordpol gehen können, um einen Punkt im unteren Streifen mit einem Punkt im oberen Streifen zu verbinden. Der Leser möge sich dies auf einem Globus vorstellen: Die Antarktis gehört zu W, und von dort aus laufen zwei immer dünner werdende Bänder zum Nordpol. Das Komplement hängt im Nordpol zusammen. Der Steifen W ist einfach zusammenhängend in . Sein Komplement  − W ist in  nicht zusammenhängend (wohl aber in ).

(2)

Der Kreisring R = U3/2(0) − cl(U1/2(0)) ist zusammenhängend in . Aber  − R ist nicht zusammenhängend in , da es auch mit Nordpol keinen Weg von 0 nach 2 gibt. Damit ist R nicht einfach zusammenhängend. Ein geschlossener Durchlauf des Einheitskreises ist, wie es ja auch der Anschauung entspricht, nicht nullhomotop.