Der Integralsatz für homotope Wege
Nach diesen Vorbereitungen können wir nun die Verstärkung des Integralsatzes formulieren und beweisen:
Satz (Integralsatz von Cauchy, Homotopie-Version)
Sei G ein Gebiet in ℂ. Dann gilt:
(a) | Seien γ0, γ1 homotope Wege von a nach b in G. Dann gilt I(f, γ0) = I(f, γ1) für jede fast holomorphe Funktion f : G → ℂ. |
(b) | Seien γ0, γ1 frei homotope Wege in G. Dann gilt I(f, γ0) = I(f, γ1) für jede fast holomorphe Funktion f : G → ℂ. Ist γ nullhomotop in G, so gilt I(f, γ) = 0 für jede fast holomorphe Funktion f : G → ℂ. |
Die Beweisidee ist gemessen an der Stärke des Ergebnisses relativ einfach. Ein technisches Hindernis ist, dass die defomierten Kurven einer Homotopie keine Wege sein müssen. Dieses Problem können wir durch eine für sich interessante Diskretisierung beheben: Wir unterteilen das Einheitsquadrat [ 0, 1 ] × [ 0, 1 ] in hinreichend feine Teilquadrate T der Seitenlänge 1/N, sodass wir N2 Teilquadrate der Form
T = [ k/N, (k + 1)/N ] × [ n/N, (n + 1)/N ]
erhalten). Nun transportieren wir die Gitterpunkte Q dieser Unterteilung mit einer Homotopie H für γ0 und γ1 nach G. Die deformierten Kurven der Homotopie laufen durch diese Bildpunkte, sodass sie „bis auf kleinere Schlenker“ festliegen. Ein Kompaktheitsargument wie bei einer Kreiskette zeigt, dass wir die Bildpunkte durch Strecken verbinden können, die ganz in G bleiben, wenn wir N hinreichend groß wählen. Genauer gilt: Das H-Bild jedes Teilquadrats T von [ 0, 1 ] × [ 0, 1 ] liegt in einer konvexen offenen ε-Umgebung UT ⊆ G, wobei ε nur von N und nicht von T abhängt. Dadurch können wir neue Wege von a nach b in Form von Polygonzügen konstruieren, die durch die Bildpunkte der Waagrechten der Diskretisierung verlaufen. Die konvexen Umgebungen ermöglichen die Wegveränderungen unter Erhalt der Integrale. Hier wird der Integralsatz für konvexe Gebiete verwendet (der Beweis kann auch nur mit dem Lemma von Goursat-Pringsheim geführt werden).
Der Leser, der mit dieser Beschreibung des Arguments zufrieden ist oder nun den Beweis bereits vor sich sieht, kann die folgende technische Umsetzung überschlagen. Entscheidend ist das Einschließen der Bilder der kleinen Teilquadrate der Diskretisierung des Einheitsquadrats in konvexe Teilmengen von G. Hier wird wesentlich des Satz von Heine über die gleichmäßige Stetigkeit von stetigen Funktionen auf kompakten Mengen oder äquivalent die Existenz von Lebesgue-Zahlen verwendet (vgl. Analysis 2).
Beweis
Die beiden Aussagen sind äquivalent, sodass es genügt, (a) zu zeigen. Seien also γ0, γ1 : I → G Wege von a nach b, die homotop in G mit festen Endpunkten sind. Sei H : I2 → G eine entsprechende Homotopie von γ0 nach γ1. Sei N ≥ 1 zunächst beliebig. Wir schreiben n′ = n/N zur Vereinfachung der Notation und betrachten das Gitter
Q = { (n′, k′) | 0 ≤ n, k ≤ N } ⊆ I2.
Das Bild H[ Q ] des Gitters Q induziert Polygonzüge in ℂ, die für große N nahe an den Kurven Hs = H(s, ·) der Homotopie liegen. Für n = 1, …, N sei der Polygonzug πn : I → ℂ von a nach b definiert durch
πn = ∑0 ≤ k < N [ H(k′, n′), H((k + 1)′, n′) ].
Indem wir N hinreichend groß wählen, können wir erreichen, dass für alle fast holomorphen f : G → ℂ gilt:
(i) | πn : [ 0, 1 ] → G für n = 1, …, N. |
(ii) | I(f, γ0) = I(f, π0), I(f, γ1) = I(f, πN), |
(iii) | I(f, πk) = I(f, π(k + 1)) für k = 0, …, N − 1. |
Damit gilt für alle fast holomorphen f : G → ℂ:
I(f, γ0) = I(f, π0) = … = I(f, πN) = I(f, γ1).
Zur Existenz von N
Da H : I2 → G stetig und I2 kompakt ist, ist C = H[ I2 ] ⊆ G kompakt. Da G offen ist, existiert ein ε > 0 mit Uε(z) ⊆ G für alle z ∈ C. Nach dem Satz von Heine ist H : I2 → G gleichmäßig stetig, sodass ein δ > 0 existiert mit
(+) ∀P ⊆ I2 (diam(P) < δ → diam(H[ P ]) < ε).
Sei nun N ≥ 1 derart, dass /N < δ. Dann ist N wie gewünscht. Denn ist T ein Teilquadrat des Gitters Q (mit der Seitenlänge 1/N), so gilt diam(T) = /N < δ, sodass
(++) diam(H[ T ]) < ε (und so H[ T ] ⊆ Uε(z) ⊆ G für alle z ∈ H[ T ]).
Damit haben die H-Bilder benachbarter Gitterpunkte von Q einen Abstand kleiner als ε voneinander, sodass die sie verbindenden Strecken in G liegen. Insbesondere gilt (i). Die Aussagen (ii) und (iii) ergeben sich durch eine integralerhaltende Wegveränderung nach dem Integralsatz für konvexe Gebiete: Die Gitter-Abschnitte von γ0 und γ1 können durch Strecken ersetzt werden, wodurch wir (ii) erhalten (Wegbegradigung). Weiter können wir integralerhaltend von πk zu πk + 1 übergehen, indem wir die Strecken von H(k′, n′) nach H((k + 1)′, n′) für n = 1, …, N − 1 je einmal in beiden Richtungen durchlaufen. Dies zeigt (iii).
Diagramm zum Integralsatz für (bereits begradigte) homotope Wege γ0, γ1 : I → G von a nach b. Durch eine hinreichend feine Diskretisierung verlaufen alle kleinen Drei- oder Vierecks-Schleifen in konvexen Teilmengen von G, sodass alle Integrale verschwinden. Integrieren wir über alle Schleifen, so heben sich wie früher alle inneren gelben Strecken auf, da sie je einmal in entgegengesetzter Richtung durchlaufen werden. Die blauen Strecken bleiben übrig. Damit gilt I(f, γ0 − γ1) = 0 (äußeres Umlaufintegral entlang des blau gezeichneten Weges), sodass I(f, γ0) = I(f, γ1) für jede fastholomorphe Funktion f : G → ℂ. Im Beweis argumentieren wir „zeilenweise“, dass I(f, πk) = I(f, πk + 1). Anhand des Diagramms lässt sich dies auch „global“ einsehen. Die blau berandete Fläche ist aus Gründen der Übersichtlichkeit vereinfacht dagestellt, im Allgemeinen ist sie nicht konvex.
Beispiel
Wir betrachten noch einmal den Kreiswechsel im Licht des allgemeinen Homotopie-Satzes. Sei G = ℂ − { p } und seien K1 und K2 Kreise in G derart, dass der Ausnahmepunkt p entweder im Inneren beider Kreise oder im Äußeren beider Kreise liegt. Dann sind K1 und K2 frei homotop in G, sodass I(f, K1) = I(f, K2) für alle holomorphen f : G → ℂ. Im zweiten Fall sind die Kreise sogar nullhomotop in G, sodass alle Integrale 0 sind.
Der Kreiswechsel ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich der Erhalt der Integrale bei einem Wechsel des Weges in wichtigen Spezialfällen auch direkt einsehen lässt. Eine Darstellung der Funktionentheorie kommt damit bis zu einem gewissen Punkt auch ohne den Homotopie-Begriff aus. Es ist aber sicher gut, den Begriff und den allgemeinen Integralsatz frühzeitig zu kennen. Die topologische Struktur eines Gebiets spielt in der Funktionentheorie eine sehr wichtige Rolle. Und „einfach zusammenhängend“ ist eine anschauliche und natürliche Verstärkung von „zusammenhängend“: „zusammenhängend ohne Löcher“. Der Begriff taucht in ℝ nicht auf, da die Entfernung eines einzigen Punktes den Zusammenhang eines offenen reellen Intervalls zerstört. In der Ebene ist das anders.
Als Typ II-Formulierung halten wir fest:
Satz (Integralsatz von Cauchy für einfach zusammenhängende Gebiete)
Sei G einfach zusammenhängend. Dann hat G Nullintegrale für alle fast holomorphen Funktionen.
Damit haben wir unser Verständnis des Hauptsatzes und auch des Hauptbeispiels deutlich vertieft:
Hat ein Gebiet G keine Löcher, so können wir jede Schleife in G zu einem Punkt in G zusammenziehen, ohne dabei G zu verlassen. Während des Zusammenziehens bleiben alle Integrale erhalten (sofern dabei nur Wege entstehen; alternativ können wir die erweiterte Definition des Integrals für beliebige Kurven verwenden). Insbesondere sind alle Umlaufintegale in G gleich Null.
Hat G Löcher wie etwa ℂ* = ℂ − { 0 }, so können wir die Wege von Umlaufintegrale immerhin noch integralerhaltend stetig verändern, und so etwa einen Kreis um 0 in ein Rechteck um Null verwandeln. Dass für f (z) = 1/z bei einem Umlauf gegen den Uhrzeigersinn 2πi herauskommt, liegt außerhalb der topologischen Analyse. Das Gleiche gilt für das Kreisintegral 0 für g(z) = 1/z2. Die Existenz von Stammfunktionen und die Unstetigkeit des Logarithmus sind analytische Phänomene, hier steht wieder der Bauplan des Integranden im Vordergrund. Die Topologie klärt alle Fragen, die nur Wege betreffen, und das ist eine ganze Menge.