Die Fundamentalgruppe eines Gebiets
Definition (Kurvenmengen, konstante Kurve, Umkehrung)
Sei G ein Gebiet in ℂ, und seien a, b ∈ G. Wir setzen
𝒞(G, a, b) = { α : I → G | α ist stetig, g(0) = a, g(1) = b },
𝒞(G, a) = 𝒞(G, a, a) = { α : I → G | α ist stetig, α(0) = a = α(1) },
εa = „die konstante Kurve α ∈ 𝒞(G, a) mit α(t) = a für alle t ∈ I“.
Für alle α ∈ 𝒞(G, a, b) ist die Umkehrung α ∈ 𝒞(G, b, a) definiert durch
α(t) = α(1 − t) für alle t ∈ I.
Die Menge 𝒞(G, a, b) versammelt alle stetigen Verbindungen von a nach b, die ganz im gewählten Gebiet G verlaufen. Die Menge 𝒞(G, a) enthält alle geschlossenen Kurven in G (Schleifen), die bei a starten und enden; wir nennen erneut a den Basispunkt der Kurven in 𝒞(G, a). Die Elemente der Mengen sind im Allgemeinen keine Wege, da keine Differenzierbarkeit gefordert wird. Die konstante Kurve εa ist eine geschlossene Kurve und entspricht dynamisch einem Punkt, der an der Stelle a still steht.
Manche Kurven können wir verknüpfen:
Definition (Verknüpfung von Kurven)
Ist α ∈ 𝒞(G, a, b) und β ∈ 𝒞(G, b, c), so definieren wir die Verknüpfung γ = α β ∈ 𝒞(G, a, c) von α und β durch
γ(t) = α(2t) für t ∈ [ 0, 1/2 ],
γ(t) = β(2t − 1) für t ∈ ] 1/2, 1 ].
Diese Verknüpfung hatten wir bei den Strecken bereits betrachtet, dort aber additiv notiert, was sich mit Blick auf die Integration anbietet. Da wir eine nichtkommutative Gruppe erhalten werden, verwenden wir die multiplikative Notation. In α β wird zuerst die α durchlaufen und danach β (jeweils mit verdoppelter Geschwindigkeit). Die Operation ist im Allgemeinen nicht assoziativ, sodass wir (α β) γ von α (β γ) unterschieden müssen. Die beiden Verknüpfungen haben die gleiche Spur, durchlaufen sie aber im Allgemeinen in unterschiedlichen Zeiten.
Wir fixieren nun ein Gebiet G und einen Basispunkt a ∈ G. In der Schleifenmenge 𝒞(G, a) ist die Verknüpfung α β zweier Kurven stets erklärt − im Gegensatz zu 𝒞(a, b) mit a ≠ b. Wir definieren:
Definition (die Homotopie-Relation auf den Schleifen)
Sei G ein Gebiet, und sei a ∈ G. Dann definieren wir für alle α, β ∈ 𝒞(G, a):
α ∼G β falls α und β sind homotop mit festen Endpunkten in G.
Obwohl die Kurven geschlossen sind, verlangen wir hier, dass der Basispunkt a zu allen Zeiten in einer Homotopie fest bleibt. Gilt α ∼G β, so startet und endet β wie α im Basispunkt a. Im Intervall ] 0, 1 [ unterscheidet sich aber β von α durch eine stetige Veränderung, die zu jeder Zeit ganz in G verbleibt. Die Kurve β kann zum Beispiel den Basispunt zur Zeit t = 1/2 zusätzlich besuchen (zwischenzeitliche Heimkehr), während α(t) ≠ a für alle t ∈ ] 0, 1 [ gelten kann. Umgekehrt können wir ein zwischenzeitliche Heimkehr wieder rückgängig machen, ober auch zusätzliche Heimkehrzeiten einführen.
Beispiel
Sei G = ℂ − { p, q } mit q = −1 + i, q = 1 + i, und sei a = 0 der Basispunkt. Weiter seien α, β ∈ 𝒞(G, a) die folgenden Polygonzüge:
α: 0, −2, −2 + 2i, 2 + 2i, 2, 0.
β: 0, −2, −2 + 2i, 2i, 0, 2i, 2 + 2i, 2, 0.
Dann gilt α ∼G β (Übung). In β haben wir einen zusätzlichen Besuch des Basispunkts eingebaut.
Man weist leicht nach (Übung):
Satz (Homotopie-Äquivalenz)
Sei G ein Gebiet, und sei a ∈ G. Dann ist ∼G eine Äquivalenz auf 𝒞(G, a).
Wir bezeichnen die Äquivalenzklasse α/∼G einer Kurve α ∈ 𝒞(G, a) mit [ α ]G oder kurz mit [ α ]. Auf den Klassen können wir nun eine multiplikativ notierte Operation einführen durch
[ α ] [ β ] = [ α β ] für alle α, β ∈ 𝒞(G, a).
mit der Verknüpfung von Kurven auf der rechten Seite. Man weist nach, dass dies wohldefiniert ist (Unabhängigkeit von der Wahl der Repräsentanten)
Der Leser, der (wie der Autor) eine Freude daran hat, Gruppenaxiome nachzuweisen, zeigt mit Freude (Übung):
Satz (Gruppenstruktur der Klassen)
Sei G ein Gebiet, und sei a ∈ G. Dann bildet die Menge
π1(G, a) = { [ a ] | a ∈ 𝒞(G, a) }
mit der Multiplikation von Klassen eine Gruppe mit dem neutralen Element 1 = [ εa ]. Für alle [ α ] ist [ α ] invers zu [ α ].
Durch den Übergang zu Homotopieklassen gilt ([ α ] [ β ]) [ γ ] = [ α ] ([ β ]) [ γ ]), sodass wir Klammern weglassen können. Diese Assoziativität kommt der Anschauung sehr entgegen. Niemand will (αβ)γ gerne von α(βγ) unterscheiden.
Wir definieren:
Definition (Fundamentalgruppe)
Die Gruppe π1(G, a) des Satzes heißt die Fundamentalgruppe oder erste Homotopiegruppe des Gebiets G mit dem Basispunkt a.
Die Gruppen sind im folgenden Sinne unabhängig von der Wahl des Basispunkts (Übung):
Satz (Wechsel des Basispunkts)
Sei G ein Gebiet, und seien a, b ∈ G. Dann sind π1(G, a) und π1(G, b) isomorph. Genauer gilt: Ist γ ∈ 𝒞(G, a, b), so ist φ : π1(G, a) → π1(G, b) mit
φ([ α ]) = [ γ α γ ] für alle [ α ] ∈ π1(G, a)
ein Gruppenisomorphismus.
In einer Kurve γ α γ laufen wir zuerst mit γ von b nach a. Dort angekommen fügen wir die a-Schleife α an und machen uns schließlich auf γ zurück nach b. Auf den ersten Blick sieht es vielleicht so aus, als würden wir dadurch nur Lassos und nicht alle Schleifen in π1(G, b) erhalten. Doch der Schein trügt: Wir arbeiten mit Homotopieklassen in 𝒞(G, b) und diese werden durch φ alle erreicht.
Notation und Sprechweise
Wir schreiben kurz π1(G) anstelle von π1(G, a) für einen beliebig fixierten Basispunkt a ∈ G. Weiter nennen wir π1(G) kurz die Fundamentalgruppe von G (ohne Erwähnung von a).
Die Aufgabe der algebraischen Topologie ist die Identifikation der Fundamentalgruppe in Abhängigkeit von G. Nach unseren Überlegungen ist klar:
Satz (Trivialität der Fundamentalgruppe)
Sei G ein Gebiet. Dann sind äquivalent:
(1) | G ist einfach zusammenhängend. |
(2) | π1(G) = { 1 }. |
Einfache Punktierungen
Topologisch deutlich anspruchsvoller ist ein punktiertes Gebiet ℂ − { p }. Hier zeigt sich:
Satz (Fundamentalgruppe einer Punktierung)
Sei G = ℂ − { p } für ein p ∈ ℂ. Dann ist π1(G) isomorph zur additiven Gruppe ℤ.
Wir werden den Satz später beweisen. Anschaulich lässt er sich so einsehen:
Beweisidee
Wir betrachten ein α ∈ 𝒞(G, a) und zählen, wie oft α um den Ausnahmepunkt p herumläuft. Dabei führt jeder Umlauf gegen den Uhrzeigersinn zu + 1 und jeder Umlauf im Uhrzeigersinn zu − 1. Es ergibt sich eine ganze Zahl d(α), die Umlaufzahl von γ. Durch φ([ α ]) = d(α) erhalten wir den gewünschten Isomorphismus φ : π1(G) → ℤ.
Mehrfache Punktierungen
Um die Fundamentalgruppe für mehrere Punktierungen zu beschreiben, benötigen wir:
Die von a1, …, an erzeugte freie Gruppe
Seien a1, …, an paarweise verschiedene Zeichen (beliebige Objekte). Wir bilden endlichen Worte, die aus dem „Alphabet“ a1, …, an, a1−1, …, an−1 gebildet werden können. Dabei ist „hoch −1“ zunächst rein formal zu lesen. Wer es genauer haben möchte, bildet die Worte aus (ai, 1) und (ai, −1) und schreibt dann zur Abkürzung ai statt (ai, 1) und ai−1 statt (ai, − 1). Das leere Wort ist zugelassen und wird mit e bezeichnet. Nun führen wir eine syntaktische Regel ein:
Zeichenpaare der Form ai ai−1 und ai−1 ai werden in einem Wort gestrichen.
Die Regel wird solange wie möglich angewendet. Ist sie auf ein Wort nicht anwendbar, so heißt das Wort reduziert. Die Multiplikation zweier Wörter erhalten wir durch Aneinanderfügen der Worte und anschließender Anwendung der Regel. Die Menge der reduzierten Wörter bildet mit der Multiplikation eine Gruppe mit neutralem Element e. Wir bezeichnen diese Gruppe mit L(a1, …, an). Die Elemente ai und ai−1 sind invers zueinander, was in der Notation bereits angelegt ist. Blöcke der Form a … a mit n Wiederholungen schreiben wir (wie in jeder multiplikativ notierten Gruppe) auch als an. Analoges gilt für a−n.
Beispiele
Für die Zeichen a, b, c gilt in der Gruppe L(a, b, c):
a a−1 = e = a−1 a,
c a b b−1 a−1 c = c a a−1 c = c c = c2,
c a b a−1 b−1 c ist reduziert.
a b ≠ b a.
Damit können wir nun ein sehr wichtiges Ergebnis über die Topologie der Ebene formulieren:
Satz (Fundamentalgruppe einer n-fachen Punktierung)
Seien p1, …, pn paarweise verschieden, und sei G = ℂ − { p1, …, pn }. Dann ist π1(G) isomorph zu L(p1, …, pn).
Der Satz lässt sich mit Hilfe der Charakterisierung der einfach punktierten Ebene durch eine Induktion nach n beweisen. Dabei wird keine Analysis, sondern nur die geometrische Struktur der Ebene verwendet.
Beweisskizze
Der Induktionsanfang n = 1 ist durch obigen Satz gegeben, da L(p1) isomorph zu ℤ ist. Im Induktionsschritt von n nach n + 1 wird (nach einer evtl. Umnummerierung) der Punkt pn + 1 durch einen aus zwei Geraden gebildeten „neutralen Streifen“ in ℂ von den anderen Punkten abgetrennt. Dadurch wird die Ebene in zwei sich auf dem Streifen überlappende offene Mengen U und V aufgeteilt, wobei in U die Punkte p1, …, pn liegen, während sich in V nur pn + 1 befindet. Eine Kurve α ∈ 𝒞(G) mit einem Basispunkt a in der neutralen Zone kann den Streifen mehrfach kreuzen. Nach Induktionsvorausetzung erhalten wir bei jedem Wechsel von U nach V ein den Kurvenabschnitt beschreibendes Wort in L(p1, …, pn) und bei jedem Wechsel von V nach U ein den Abschnitt beschreibendes Wort in L(p1) ≃ ℤ. Das Zusammenfügen dieser Worte liefert ein Wort in der Gruppe L(p1, …, pn + 1) und dadurch den gewünschten Isomorphismus.
Abelisierung
Führen wir in der freien Gruppe L(a1, …, an) eine weitere Regel ein, nämlich die Vertauschungsregel
„a b = b a für alle a, b ∈ { a1, …, an, a1−1, …, an−1 }“,
so erhalten wir eine kommutative Gruppe. Diese Gruppe ist isomorph zur Gruppe ℤn mit der punktweisen Addition und 0 = (0, …, 0) als neutralem Elelent.
Anschaulich besagt die Regel: Aufeinanderfolgende Zeichen eines Worts dürfen vertauscht werden. Durch mehrfache Anwendung können wir gleiche Zeichen gruppieren, wodurch Reduzierungen möglich werden. Durch die Regel entstehen Worte der Normalform a1j1 … anjn mit (j1, …, jn) ∈ ℤn. Der Isomorphismus lässt sich ablesen.
Beispiel
Aus dem Wort a b a c−2 b−1 c−1 wird mit der Vertauschungsregel das Wort a2 c−3, das wir in ℤ3 in der Form (2, 0, − 3) notieren können.
Algebraisch äquivalent zur Vertauschungsregel ist die Bildung der Faktorgruppe G/[ G, G ] mit G = L(a1, …, an). Dabei ist für jede Gruppe G die Kommutator-Untergruppe [ G, G ] definiert durch
[ G, G ] = { [ a, b ] | a, b ∈ G }, wobei [ a, b ] = a b a−1 b−1 für alle a, b ∈ G.
Diese Untergruppe ist der kleinste Normalteiler H von G, für den die Faktorgruppe G/H kommutativ ist. Die Bildung von G/[ G, G ] wird deswegen auch als Abelisierung von G bezeichnet. Die Konstruktion ist für jede Gruppe G durchführbar. In unserem Fall G = L(a1, …, an) entspricht sie der anschaulichen Einführung der Vertauschungsregel für Wörter.
Die Abelisierung ist für die Integration ebenso natürlich wie bedeutsam: Nach der Aufspaltungsregel können wir ein Integral über einen Weg γ1 … γn immer als Summe der Integrale über die Teilwege γ1, …, γn schreiben, sodass sich hier die Summennotation γ1 + … + γn anbietet. Die Reihenfolge spielt keine Rolle. Wir können γ1, …, γn als Menge von geschlossenen Wegen auffassen, die wir − unter anderem − der Integration übergeben können. Beim Homologie-Begriff werden wir hierauf zurückkommen.